Mindestens jedes zweite Tötungsdelikt in der Schweiz bleibt unerkannt – das glaubt Christian Jackowski, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin (IRM) an der Universität Bern: «Wir haben in unserer täglichen Arbeit immer wieder mit Fällen zu tun, wo ganz offensichtlich nicht natürliche Todesfälle nicht als solche erkannt wurden.»
In Zusammenarbeit mit dem Krematorium Bern wollen die Forscher deshalb während eines Jahres Leichen vor der Kremation noch einmal anschauen. Das Rechtsinstitut der Universität Bern und die Berner Staatsanwaltschaften haben die Durchführbarkeit des Forschungsprojekts abgeklärt und grünes Licht gegeben.
Wissenschaft gegen Ethik
Bestatter laufen aber Sturm gegen die Idee. Gyan Härri vom Berner Bestattungsunternehmen Aurora sagt: «Die Universität muss aktiv das Einverständnis der Angehörigen einholen für so ein Projekt. Die Totenruhe der Leichen wird gestört.»
Ähnliche Bedenken äussert auch die Medizinal-Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle. Es gehe um die gleiche Problematik wie bei der Organspende: «Es kann nicht sein, dass Angehörige aktiv sagen müssen: Das will ich nicht. Die Forscher müssten aktiv fragen: Dürfen wir das?»
Ärztliche Leichenschau unter schwierigen Bedingungen
SRF News: Warum gehen Sie davon aus, dass viele unnatürliche Todesfälle nicht erkannt werden?
Christian Jackowski: Wir sehen in unserer täglichen Arbeit immer wieder Fälle, bei denen Ärzte offensichtlich nicht natürliche Todesursachen als natürlich attestiert haben. Das Problem ist, dass die ärztliche Leichenschau unter schwierigen Bedingungen stattfindet. Die Ärzte werden oft in sehr emotional aufgeladene Trauersituationen gerufen.
Da ist es gar nicht so einfach, eine sorgfältige Leichenschau durchzuführen. Manchmal besteht erheblicher Druck seitens der Angehörigen, möglichst schnell den Tod zu bescheinigen. Das hat die Konsequenz, dass unnatürliche Todesfälle oft nicht erkannt werden.
Wie ist das denn in anderen Ländern geregelt?
Zum Beispiel in Deutschland ist eine Leichenschau vor der Kremation gesetzlich vorgeschrieben. Dort darf man keinen Leichnam einäschern, ohne ihn nochmals im Sinne der Bestattungsleichenschau anzuschauen. Deshalb werden regelmässig Tötungsdelikte erkannt, die im Rahmen der ersten Leichenschau nicht erkannt wurden.
Es gibt emotionalen Protest. Bestatter sprechen von einer Störung der Totenruhe.
Ich habe grosses Verständnis dafür, dass diese Pietätsfragen in der Bevölkerung unterschiedlich empfunden werden. Wir haben das in den vergangenen drei Jahren rechtlich breit geprüft. Strafrechtlich liegt keine Störung des Totenfriedens vor. Sonst würde für uns als rechtsmedizinisches Institut ein solches Projekt nicht in Frage kommen. Ausserdem wird die Totenruhe bei der Kremation selbst ja maximal gestört. Dagegen ist die Leichenschau verhältnismässig eine sehr geringfügige Störung.
Sie wollen eine wissenschaftliche Frage klären. Den Trauerfamilien geht es um emotionale Anteilnahme. Stellen sie ihre Forschung über diese Fragen?
Das gesellschaftliche Interesse an dieser Frage ist sehr hoch. Wir haben uns im Rahmen unserer Studienvorbereitung intensiv mit diesen Fragen beschäftigt, um zu gewährleisten, dass die Interessen der Angehörigen und die Persönlichkeitsrechte der Verstorbenen ausreichend berücksichtigt werden. Gerade deshalb haben wir zum Beispiel das Krematorium als Ort gewählt, unmittelbar vor der Einäscherung. Dann haben die Angehörigen in der Regel bereits Abschied genommen. So greifen wir möglichst wenig in die Trauerarbeit der Angehörigen ein.
Das Gespräch führten Simone Herrmann und Joël Baumann.