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Voraussehbare Tat? Polizei war nur vier Tage vor Tat beim Verdächtigen von Morges

Der spätere Attentäter vom September war in ein kleines Hotel einquartiert worden, dort fanden die Beamten ein Testament

Die Nachbearbeitung des ersten dschihadistischen Anschlags in der Schweiz von Mitte September in Morges, ist in einen Streit zwischen den Ämtern ausgeartet: Die Waadtländer Regierung hat ihren Unmut gegenüber der Bundesanwaltschaft (BA) kundgetan. In wenigen Wochen soll eine Aussprache stattfinden. Der Kanton bestätigt gegenüber SRF einen Brief der BA, wollte sich aber nicht zum Inhalt äussern.

Der spätere Attentäter kam im April 2019 in Untersuchungshaft, weil er versucht haben soll, eine Tankstelle bei Lausanne in Brand zu setzen. Bald wurde den Behörden sein radikaler Hintergrund bekannt, die BA übernahm die Strafuntersuchung.

Eine Warnung

Nachdem die Untersuchungshaft mehrmals verlängert worden war, kamen die Behörden im Februar zum Schluss, dass man den Mann nicht länger in Haft behalten könne – aus rechtlichen Gründen und gestützt auf einem psychiatrischen Gutachten. Die Waadt schreibt SRF, man habe vor einer Freilassung gewarnt.

Im Juli kommt der Mann mit Beschluss des Zwangsmassnahmengerichts frei, dieses legt Ersatzmassnahmen fest: etwa eine nächtliche Ausgangssperre, Waffentrageverbot, Meldepflicht bei der Polizei und Therapiesitzungen.

Die Einhaltung, muss die Polizei im Wohnkanton überwachen, was anscheinend an die lokale Polizei delegiert wurde. Und diese kannte offenbar nicht das ganze Profil des Mannes. Untergebracht wird er in einem Hotel. Das ist einer der Streitpunkte zwischen Kanton und Bund. Die BA sagt, es sei eine Unterbringung in einer Institution geplant gewesen.

Unterschiedliche Darstellungen

Auf Anfrage «10vor10» schreibt die BA: «Die Umsetzung der betreffenden Massnahme oblag den Behörden des Kantons Waadt. Dass mit Institution nicht ein Hotel gemeint war, ist offensichtlich und das hat die BA zeitnah nach der Haftentlassung moniert.»

Der Kanton schreibt aber, die BA habe sich nie gegen ein Hotel gestellt. Weder die BA noch das Zwangsmassnahmengericht hätten die Unterbringung in einer bestimmten Institution oder gar einer geschlossenen Anstalt verlangt. Offen lässt der Kanton, wie eng er die Einhaltung der Ersatzmassnahmen überwacht hat. Man habe aber Verstösse festgestellt und diese der BA gemeldet. Diese sagt, dass die gemeldeten Verstösse eine erneute Inhaftierung nicht gerechtfertigt hätten. Der Mann blieb auf freiem Fuss.

Ein Testament

Kanton und Bund waren sich einig, eine Gefährdungsanalyse in Auftrag zu geben – die aber nicht durchgeführt wurde – und Unterbringung mit psychologischer Betreuung zu suchen. Doch es schien keinen Platz zu haben. So wurde der Mann anfangs September in einem neuen Hotel untergebracht, wenige Kilometer vom späteren Tatort entfernt.

Dort fand am 8. September eine Hausdurchsuchung durch die Kantonspolizei statt, wie das Sicherheitsdepartement des Kantons Waadt SRF-Recherchen bestätigt. Dabei wurde offenbar sein Handy konfisziert, wie mehrere Quellen bestätigen. Der Kanton schreibt, mit der Durchsuchung habe man auf die Auflagen-Verstösse reagiert. Nach der Tat findet die Polizei dort ein Testament mit Hinweisen, dass der Mann den Propheten rächen wolle – was er später als Motivation für die Tat angibt.

Lag das Testament bereits bei der Durchsuchung am 8. September im Zimmer? Damals hatten die Polizisten nur den Auftrag, das Handy zu konfiszieren, nicht aber eine Durchsuchung vorzunehmen. Damit bleibt die Frage offen, denn es ist nicht bekannt, wann der Mann das Testament schrieb.

Klar ist, dass er nach dem Besuch der Polizei auf freiem Fuss bleibt – und vier Tage später zur Tat schreitet.

Lücken in der Terrorabwehr stopfen

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Vor dem Hintergrund mehrerer islamistischer Anschläge in Nachbarländern in den vergangenen Wochen und jüngst der Messerattacke in Lugano erhält die Frage, wie die Schweizer Sicherheitsbehörden mit Risikopersonen umgehen, nun zusätzliche Bedeutung.

Die ehemalige Sicherheitsdirektorin des Kantons Waadt und heutige Nationalrätin in der Sicherheitspolitischen Kommission, Jacqueline De Quattro, ortet mehrere Lücken in der Terrorabwehr, die sie per Gesetzesänderungen gestopft haben will, wie sie gegenüber «10vor10» ausführt.

In einer Motion schlägt De Quattro vor, potentiell gefährliche Personen, bei denen es Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund gebe, müssten zwingend vor einer Entlassung aus der Untersuchungshaft oder nach Verbüssen einer Haftstrafe einer Evaluation unterzogen werden, es brauche ein zweites Gutachten. Zudem müssten Einschätzungen der Sicherheitsbehörden miteinbezogen werden. In einer weiteren Motion fordert De Quattro, die Rolle von Fedpol müsse gestärkt werden, das Bundesamt für Polizei soll mehr Kompetenzen erhalten, um die Aktivitäten verschiedener Behörden besser zu koordinieren, insbesondere auch zwischen den Kantonen.

10vor10, 27.11.2020

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