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Auslosen statt wählen Per Zufall Nationalrat?

Die Parlamentarier mit dem Los bestimmen – diese Idee ist gar nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick scheint.

Losen statt wählen sei keine ferne Utopie, betont der Tessiner Politologe Nenad Stojanovic gleich zu Beginn seines Vortrags im Zentrum für Anarchie in Aarau. Die Auslosung sei jahrhundertelang die demokratische Auswahlmethode par excellence gewesen.

Sie sei im antiken Athen, in den italienischen Renaissance-Hochburgen Venedig und Florenz oder bis ins 19.Jahrhundert auch in zahlreichen Schweizer Städten und Kantonen angewandt worden, so Stojanovic.

Steckt das System in einer Krise?

Heute repräsentierten die Gewählten in der Schweiz die Wählenden nur ungenügend, sagt der Politologe. Bei Wahlen gebe es viele Ungleichheiten, das System stecke in einer Krise. «Jemand, der viel Geld hat oder einen bestimmten Nachnamen trägt, hat bei der Wahl Vorteile». Diese Vorteile beruhten nicht auf persönlichen Verdiensten.

Würde statt einer Wahl das Los entscheiden, wären über kurz oder lang alle Bevölkerungsschichten gerecht vertreten: Männer und Frauen, Alte und Junge, Reiche und Arme. Lobbyisten fiele es schwerer, Parlamentarier zu beeinflussen; der politische Prozess würde dynamischer, glaubt Stojanovic. «Das Losverfahren ist eine Methode, um die Demokratie wieder zu beleben.»

Wichtige Funktion der Parteien

Stojanovic lehrt heute an der Universität Genf, früher forschte der gebürtige Bosnier mehrere Jahre am Zentrum für Demokratie in Aarau. Dessen Direktor steht den Ansichten seines früheren Kollegen kritisch gegenüber. Natürlich wäre ideal, wenn ein politisches Gremium die Bevölkerungszusammensetzung möglichst genau widerspiegle, findet auch Andreas Glaser.

Allerdings sei das nicht der einzige entscheidende Faktor. Ebenso wichtig sei, dass die Meinung in ihrem Gewicht vertreten sein müsse. «Die Mehrheit muss sich in ihrer Wahl durchsetzen können.» Und dabei spielten die politischen Parteien eine zentrale Rolle.

Die Parteien bündelten die Meinungen und lieferten und den Wählenden notwendige Informationen, so Glaser. Dies funktioniere in der Schweiz recht gut. Eine Krise der Demokratie in der Schweiz könne er trotz grossem Einfluss von Lobbygruppen im Parlament oder Fehlleistungen einzelner Volksvertreter jedenfalls nicht ausmachen.

Direkte Demokratie als Korrektiv

Schliesslich gebe es mit den Grundrechten wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit, freien Medien und der direkten Demokratie genügend Korrektive zu den gewählten Volksvertretern in Parlament, Regierung und Justiz, so Glaser. «In der Schweiz gibt es keine Anzeichen, von einer Krise der Demokratie zu sprechen.»

Auch Politologe Stojanovic hält es für verfrüht, gleich das nationale Parlament oder gar die Regierung auszulosen statt zu wählen. Er schlägt aber vor, das Losverfahren zuerst auf Gemeindeebene oder bei Sachfragen auszuprobieren. So könnte etwa per Los ein Bürgerrat bestimmt werden, der über eine Sachvorlage diskutiert und dazu eine Empfehlung abgibt.

Bundesrichter per Los bestimmen?

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In der Walliser Kantonshauptstadt Sion läuft derzeit ein Pilotprojekt, bei dem eine in einem komplizierten Verfahren ausgeloste Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern eigene Abstimmungsunterlagen für den Urnengang nächsten Februar ausarbeitet.

Auch die übrige Schweiz wird sich bald zur Los-Idee äussern können: In etwa zwei Jahren kommt die Justiz-Initiative zur Abstimmung an der Urne. Sie fordert, dass die Mitglieder der Bundesgerichte nicht mehr vom Parlament gewählt, sondern durch Losentscheid bestimmt werden.

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