Das Wichtigste in Kürze
- Laut Avenir Suisse steckt die Schweiz in einem Reformstau und verweigert Entscheide über ihre Zukunft.
- Die liberale Denkfabrik will Diskussionen anstossen anhand verschiedener Zukunftszenarien. Darin ist auch ein EU-Beitritt kein Tabu.
- Wenig euphorisch reagieren Politiker: Eine breite EU-Beitrittsdiskussion bringe derzeit nichts.
Die liberale Denkfabrik Avenir Suisse will mit sechs Szenarien «einen Wettstreit der Meinungen über mögliche Zukünfte der Schweiz initiieren, um den wohligen, vertrauten Ist-Zustand zu verlassen», wie sie sagt.
Für diesen Ist-Zustand sehen die Autoren schwarz. Von bequemen Verharren in alten Errungenschaften, Tendenzen zur Selbstgefälligkeit, Reformstau und Stillstand ist die Rede. Auch von einem immer lauter werdenden Ruf nach einem Schutzwall gegen alles, was von aussen komme.
Schweiz muss um Wohlstandniveau kämpfen
Besonders düster ist das Fazit für die Jahre 2010 bis 2017. Sie hätten der Schweiz wenig zusätzlichen Wohlstand gebracht, das Land sei etwas zurückgefallen. Als positive Faktoren gelten die Wachstumsimpulse durch den Export, offene Grenzen sowie wenig Protektionismus. Marktzutrittshürden dagegen führten zu Wohlstandverlust.
Als Hauptproblem wird im Buch, das von diversen Schweizer Unternehmen unterstützt wurde, das schwache Produktivitätswachstum hervorgehoben. Das Fazit: «Die Schweiz wird nur mittels eines verbesserten Produktivitätswachstums ihr ausserordentliches Wohlstandsniveau auf Dauer halten und ausbauen können.»
Zwischen Abschottung und Öffnung
Die sechs aufgezeigten Zukunftswege für die Schweiz bewegen sich zwischen kompletter Autonomie und Integration sowie zwischen offenen und kontrollierten Märkten. In zwei der Szenarien würde die Schweiz der EU beitreten.
Beim extremen «skandinavischen Weg» würde zwar der Franken behalten, die Währungspolitik sich aber nach der Europäischen Zentralbank richten. Der Souveränitätsbegriff müsste neu definiert werden, der Sozialstaat ausgebaut, die Abgabenlast erhöht und der Arbeitsmarkt stärker reguliert werden.
Vorteile des «skandinavischen Weges» wären etwa eine Mitbestimmung bei der EU-Gesetzgebung statt autonomem Nachvollzug und eine erhöhte Kaufkraft der Haushalte durch Importwettbewerb. Zu den Risiken zählt das Weissbuch einen hohen Regulierungsgrad, geringere Innovationsfähigkeit, eine hohe Abgabenlast, die zu Brain Drain führt, sowie eine Erosion der Steuerbasis.
EU-Beitritt entdiabolisieren
Die positiven Wachstums- und Lohneffekte des «skandinavischen Weges» würden mit der Zeit nachlassen, heisst es. Die Autoren lassen durchblicken, dass die Szenarien zugespitzt sind, wenn es etwa heisst: «Ein Wohlfahrtssystem, in dem Kinderkrippen nachts offen haben, Gefangene Skilanglauf betreiben und Heavy-Metal-Fans pauschal für süchtig und damit unterstützenswürdig befunden werden, wirkt befremdend.»
Am anderen Ende der Extreme skizziert das Weissbuch den selbstbestimmten Rückzug mit einer Kündigung der Bilateralen, einer erstarkten Landwirtschaft, hoher Umweltstandards und weniger Nettozuwanderung. Damit hat es sich dann auch mit den Vorteilen. Denn der Sonderfall abseits der Globalisierung führte zu einer Abwanderung von Hochqualifizierten und Unternehmen, Wartezeiten an der Grenze, steigende Preise und Schmuggel, einer schrumpfenden Volkswirtschaft und wachsenden Verteilungskonflikten.
Die anderen vier Szenarien liegen zwischen den Extremen. Die Auslegeordnung soll die Frage nach einer EU-Mitgliedschaft der Schweiz enttabuisieren, wenn nicht gar entdiabolisieren, wie die Autoren weiter schreiben.
Ablehnung bei bürgerlichen Politikern
Bei Parlamentariern in Bern löst der Aufruf zur Debatte über einen EU-Beitritt nicht eben Begeisterungsstürme aus. FDP-Ständerat Philipp Müller spricht von einer Diskussion um Luftschlösser. Einem EU-Beitritt fehlten die Mehrheiten.
CVP-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter meint, eine neue Beitrittsdiskussion könnte schädlich sein für die Verhandlungen über das Rahmenabkommen mit der EU, die derzeit geführt werden. Die Sicherung des bilateralen Wegs habe derzeit Priorität, eine Beitrittsdiskussion sei deshalb nicht opportun.
Vorsichtige Zustimmung bei der SP
SP-Nationalrat Eric Nussbaumer nimmt den Ball von Avenir Suisse gerne auf. Auch er hält einen EU-Beitritt derzeit nicht für realistisch. Doch Nussbaumer würde eine Diskussion darüber begrüssen. Denn diese sei tatsächlich zu einem Tabu geworden. Mitverantwortlich dafür macht er den Bundesrat.