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Wie viel ist ein Leben wert? «Wir bezahlen gut 10 Millionen Franken für jedes gerettete Leben»

Die Schweiz hat mit den Massnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus versucht, möglichst alles zu tun, um Leben zu schützen. Bei jemandem wie Antoine Chaix, der als Arzt in diversen Notstandsregionen im Einsatz war und über die Rettung von Menschenleben entscheiden musste, löst dies Fragen aus.

Antoine Chaix

Arzt

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Antoine Chaix praktiziert als Arzt in Einsiedeln und in Glovelier (JU). Er war Vorstandsmitglied der Médecins sans Frontières und hat mehrere Einsätze für die Organisation geleistet. Er ist SP-Kantonsrat in Schwyz.

SRF News: Wie hoch ist der Preis, den wir für die Corona-Krise bezahlen?

Antoine Chaix: Sehr hoch. Wir können davon ausgehen, dass wir mit der Strategie, in den Spitälern Engpässe zu vermeiden, ein paar tausend Menschenleben retten. Man kann rechnen: Bei rund 40 Milliarden Kosten und – schätzen wir mal – 4000 Menschenleben, die wir durch die Covid19-Massnahmen retten, kommt man auf 10 Millionen Franken für ein gerettetes Leben. Das ist schon sehr viel.

Darf man das überhaupt so rechnen?

Diese Rechnung macht man sehr oft in der Medizin. Wenn beispielsweise ein neues, sehr teures onkologisches Medikament auf den Markt kommt, entscheiden mitunter die Gerichte, ob es von der Krankenkasse vergütet werden muss. Das Bundesgericht hat sich in solchen Fällen auch schon dagegen entschieden, weil die Wirtschaftlichkeit schlicht nicht gegeben ist. Noch krasser gesagt: Die möglicherweise gewonnene Lebenszeit ist den teuren Preis nicht wert.

Warum fordern ausgerechnet Sie als Mediziner, dass man sich fragen soll, wie viel uns als Gesellschaft ein Menschenleben wert ist?

Ich will die Diskussion keinesfalls aufs Finanzielle reduzieren. Doch falls wir uns dieser Frage als Gesellschaft nicht stellen, befürchte ich, dass sich diese Frage irgendwann automatisch durch die verfügbaren finanziellen Mittel selbst beantwortet, wie es in vielen Ländern längst der Fall ist.

Und wir müssen auch den anderen Preis hinterfragen, den wir aufgrund der harten Massnahmen zahlen. Der ist bei alten Menschen besonders hoch. Sie sind in Alters- und Pflegeheimen abgeriegelt.

Warum stört Sie das?

Ich empfinde das als massive Bevormundung. Ein Beispiel aus meinem Alltag als Hausarzt: Wenn man in einem Pflegeheim – etwa im Fall einer dementen Person – am Bett ein Gitter anbringen will, um sie vor dem Hinausfallen zu schützen, dann muss ich diese Massnahme als Hausarzt anordnen und unterschreiben, denn es ist eine Freiheitsberaubung. Bei der Freiheitsberaubung, die sich derzeit in den Alters- und Pflegeheimen abspielt, wurde niemand um Erlaubnis gefragt. Und erst recht nicht die Betroffenen selbst.

Müsste man alten Menschen die Wahl geben, ob sie den Schutz wollen?

Ich fände das zentral. Überall sonst haben wir Wahlfreiheit und man darf über seine Gesundheit selbst entscheiden. Gerade die Alten jedoch wurden am wenigsten gefragt. Wenn ich als Hausarzt meine Patienten frage, wie sie sich entscheiden würden, sagen die meisten Leute: Ich würde lieber sechs Monate weniger lang leben und dafür meine Enkel sehen, als eingesperrt zu sein. Und auch sonst nimmt für die alten Menschen in der Gesellschaft die Spannung zu. Sie werden wie Schwerverbrecher angeschaut, denn man macht den ganzen Aufwand ja für sie.

Muss die Gesellschaft umdenken?

Es bräuchte dringend einen Paradigmenwechsel. Bis jetzt konnte man bis ins hohe Alter alles machen. Es gibt sogar einen Druck von vielen Angehörigen auf ältere Patienten. Darum entscheidet sich viele Patienten für eine Behandlung, obwohl sie das gar nicht unbedingt wollen. Es braucht viel, als Patient auf eine Behandlung, die der Arzt vorschlägt, zu verzichten. Heute wird alles, was medizinisch machbar ist, meist einfach gemacht.

Das Gespräch führte Stephan Rathgeb.

10v10 vom 04.05.2020 ; 

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