Damit hatte Ines Vischer nicht gerechnet. Kurz vor ihrer Pensionierung werden ihre Lähmungen schlimmer. Die querschnittgelähmte Frau hat Mühe zu schreiben, zu kochen oder allein ins Bett zu gehen. Alles Dinge, die sie über Jahrzehnte – obwohl sie wegen eines Unfalls seit 1979 im Rollstuhl ist – alleine gemeistert hat.
In ein Heim zu gehen, kam für mich nicht in Frage.
«In ein Heim zu gehen, kam für mich nicht in Frage», sagt Ines Vischer. Sie will auch nicht, dass sich ihre Familie um sie kümmert. Deshalb engagiert sie eine sogenannte 24-Stunden-Betreuerin – also eine Betreuerin, die bei ihr wohnt und rund um die Uhr für sie sorgt.
Hilfe nach Hause holen
Fünf Jahre ist Irena Sabinicz inzwischen bei Ines Vischer. Irena Sabinicz reist jeweils für fünf Wochen an und geht dann wieder für drei Wochen zurück in ihre Heimat. «Manchmal plagt mich schon das Heimweh», sagt die Polin, aber die Arbeit mache sie auch glücklich. Es sei schön, gebraucht zu werden.
Irena Sabinicz putzt, kocht, geht mit ihrer Klientin spazieren, in die Ferien, hilft ihr beim Duschen oder beim Zubettgehen. «Ohne sie wäre ich aufgeschmissen», sagt Ines Vischer liebevoll. Und trotzdem: Von jemandem abhängig zu sein, sei nicht immer nur einfach.
Betreuerinnen wie Irena Sabinicz gibt es in der Schweiz Tausende. Wie viele es genau sind, ist unklar. Sie kümmern sich um Menschen wie Ines Vischer. In den meisten Fällen kümmern sie sich aber um deutlich ältere Menschen oder gar um Betagte, die dement sind. Dementsprechend unterschiedlich kann der Betreuungsaufwand sein.
Viel Arbeit für wenig Geld?
Es gebe Familien, die die 24-Stunden-Betreuung wortwörtlich nehmen würden, sagt VPOD-Gewerkschaftssekretärin Vanessa von Bothmer. Bei ihr würden sich immer wieder Frauen melden, die über nicht geregelte Arbeitszeiten, fehlende Pausen und Ruhezeiten beklagten.
Wenn jemand dauernd präsent sein muss, nicht abschalten kann und übermässig lange Tage hat, dann schlägt das auf die Gesundheit und die Psyche.
Von ähnlichen Anrufen erzählt Samuel Burri von der Gewerkschaft Unia. «Wenn jemand dauernd präsent sein muss, nicht abschalten kann und übermässig lange Tage hat, dann schlägt das auf die Gesundheit und die Psyche», so Burri.
Wenn 79 Tage durchgearbeitet wird
Ein Beispiel für die teils prekären Bedingungen ist die Slowenin Lilijana Kovacic. Sie musste in ihrem letzten Anstellungsverhältnis jeweils mehrere Wochen am Stück ohne freie Tage durcharbeiten. Zuletzt – wegen Einreisebeschränkungen durch Covid-19 – verlängerte sich ein solcher Einsatz und sie arbeitete 79 Tage am Stück.
Ich bin eine starke Person, die viel aushält, aber trotzdem bin ich noch ein Mensch. Ich habe in einem Jahr 10 Kilo verloren.
Das Haus habe sie jeweils nicht länger als für eine Stunde verlassen können, so die Seniorenbetreuerin. Diese Arbeitssituation habe sich bei ihr auch gesundheitlich und psychisch bemerkbar gemacht: «Ich bin eine starke Person, die viel aushält, aber trotzdem bin ich noch ein Mensch. Ich habe in einem Jahr 10 Kilo verloren.»
Auch wegen solcher Beispiele fordern beide Gewerkschaften fordern seit Jahren, dass die 24-Stunden-Betreuung dem Arbeitsgesetz unterstellt wird. «Damit wären Arbeits- und Ruhezeiten verbindlich geregelt», so ihr Argument.
In der Politik stossen die Gewerkschaften mit ihrer Forderung auf wenig Resonanz. Zwar hat der Bundesrat vor ein paar Jahren die Kantone darum gebeten, die 24-Stunden-Betreuung über den Normalarbeitsvertrag besser zu regeln. Das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco hat den Kantonen dafür einen Modellvertrag vorgelegt. Darin hat der Bund erstmals Mindeststandards zum Bereitschaftsdienst, Arbeitszeit oder Freizeit formuliert.
«In der Politik eher ein Tabuthema»
Der Modellvertrag des Bundes ist allerdings nicht verbindlich für die Kantone, sondern dient lediglich zur Orientierung. Wie wenig Priorität das Thema in der Politik geniesse, zeige sich bei der Umsetzung, sagen Burri und von Bothmer. In vielen Kantonen habe sich kaum etwas geändert.
Wie eine Umfrage von 10vor10 zeigt, hat die Hälfte der Kantone zwei Jahre nach dem Auftrag des Bundes ihre Normalarbeitsverträge noch nicht überarbeitet. Diejenigen, die dies getan haben, unterschreiten die Empfehlungen des Bundes oft in wichtigen Punkten.
Praktisch vollständig übernehmen den Modellvertrag einzig die Kantone Aargau, Solothurn und Tessin. Dazu kommt, dass die kantonalen Normalarbeitsverträge ein schwacher Schutz sind, selbst wenn die Kantone alle Mindeststandard übernehmen. Sie sind nur sogenannt nachrangiges Recht und können durch vertragliche Regelungen einfach ausgehebelt werden.
«24-Stunden-Betreuung ist ein arbeitsrechtlicher Dschungel»
Ein weiteres Problem: Es gibt verschiedene Anstellungsformen. Das mache das Ganze noch komplizierter und so sei es auch für die Frauen schwierig, überhaupt zu wissen, welches ihre Rechte sind.
Roger Rudolph, Professor für Arbeitsrecht an der Universität Zürich, sagt, die 24-Stunden-Betreuung sei ein arbeitsrechtlicher Dschungel. «Die Rechtsgrundlage in solchen Anstellungskonstellationen ist aus der Sicht des Arbeitnehmerschutzes unbefriedigend und kann je nach Umständen prekäre Arbeitsbedingungen fördern.»
Grosse Unterschiede bei den Löhnen
Ines Vischer hat Irena Sabinicz selbst gesucht und angestellt. Sie findet, viele Verleihfirmen würden zu viel Geld für sich abzwacken und den Frauen zu tiefe Löhne oder gar Löhne unter dem Mindestlohn bezahlen. Stimmt das? Das gebe es tatsächlich oft, bestätigen die Gewerkschaften.
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Donar Barrelet von Pflegehilfe Schweiz, eine der grossen Vermittlerin von Pflege- und Betreuungspersonal, geht sogar noch einen Schritt weiter: «Leider gibt es nach wie vor illegale Firmen, die Betreuerinnen lächerliche 2000 Franken pro Monat bezahlen.» Das schade dem Ruf der Branche. Wie viel seine Firma an den Betreuerinnen mitverdient, will er dann aber doch auch nicht sagen. Er sagt einzig, dass Pflegehilfe Schweiz den Mindestlohn von 3500 Franken einhalte.
Bei Pflegehilfe Schweiz bezahle eine betagte Person für das Basis-Paket rund 6000 Franken pro Monat. Das bedeute, die Betreuerin arbeitet insgesamt 42 Stunden pro Woche, verteilt auf fünfeinhalb Tage. Überstunden oder Bereitschaftsdienst würden extra abgegolten.
Unter dem Arbeitsgesetz steigen die Kosten
Wie viel Ines Vischer Irena Sabinicz zahlt, wollen die beiden nicht sagen. Irena Sabinicz scheint auf jeden Fall zufrieden mit ihrem Lohn. Der finanzielle Druck dürfte bei Ines Vischer aber wohl auch kleiner sein als bei anderen Personen oder Familien. Bei ihr bezahlt die IV einen grossen Teil der Betreuungskosten. Grundsätzlich müssen die Betagten selbst für die Betreuung aufkommen.
Unter fairen Löhnen und Arbeitsbedingungen gehe die Rechnung auf, so die Gewerkschaften. Doch: Viele werden nach wie vor ausgebeutet. Das würden die Schilderungen der Anruferinnen zeigen, so die Gewerkschaften. Deshalb müsse die 24-Stunden-Betreuung dem Arbeitsgesetz unterstellt werden.
Die Unterstellung im Arbeitsgesetz würde jedoch laut eines vom Bund in Auftrag gegebenen Berichts die Kosten für die 24-Stunden-Betreuung massiv in die Höhe treiben. Je nachdem, wie die Bereitschaftsdienste geregelt würden, könnte das Mehrkosten von bis zu 10'000 Franken pro Monat bedeuten. Das würde zudem die Gefahr erhöhen, dass der Schwarzmarkt wachse, schreiben die Ökonomen.
Schlussendlich ist es aber nicht nur eine rechtliche Frage, sondern vielmehr auch eine gesellschaftliche, nämlich: Wie will die Schweiz mit älteren Menschen umgehen will, zu welchem Preis und auf Kosten von wem? Politisch ist es auf jeden Fall ein heisses Eisen. Als Politiker dürfte man sich kaum beliebt machen, wenn man sich zu sehr für die Rechte der Betreuerinnen einsetzt – vor allem nicht dann, wenn es bedeutet, dass die Kosten für die Betagten steigen würden.