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Zwangsmassnahmen in Fürsorge «Das Kapitel ist noch nicht abgeschlossen»

Nach jahrzehntelangem Schweigen und Vertuschen hat die Schweiz in den vergangenen Jahren mit der Aufarbeitung eines der dunkelsten Kapitel ihrer Vergangenheit begonnen: Ab 2013 suchten Opfer, Behörden, Bauern- und Kirchenvertreter gemeinsam Lösungen zur Anerkennung des Unrechts, das Tausenden Betroffenen durch sogenannte fürsorgerische Zwangsmassnahmen widerfahren war.

Nun ist die Arbeit dieses Runden Tisches beendet. Justizministerin Simonetta Sommaruga hat sich heute bei den Beteiligten bedankt. Im Gespräch zieht sie Bilanz.

Frau Bundesrätin, was ist Ihre Bilanz zum Runden Tisch über die Zwangsmassnahmen?

Simonetta Sommaruga: Ich bin sehr froh, dass dieser Runde Tisch nicht nur stattgefunden, sondern dass er auch konkrete Massnahmen vorgeschlagen hat. Massnahmen, wie wir mit diesem dunklen Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte umgehen können, in dem jahrzehntelang Kinder wie Arbeitssklaven gehalten, junge Frauen ins Gefängnis gesteckt oder zwangssterilisiert wurden, weil sie ein uneheliches Kind hatten.

Der Runde Tisch hat dafür gesorgt, dass dieses Unrecht überhaupt anerkannt wird.

Der Runde Tisch hat erstens dafür gesorgt, dass dieses Unrecht überhaupt anerkannt wird. Das ist ganz wichtig. Zweitens, dass wir diese Geschichte aufarbeiten. Und drittens, dass es auch einen Solidaritätsbeitrag gibt, eine finanzielle Wiedergutmachung für die Opfer dieser fürsorgerischen Zwangsmassnahmen.

Die Schweiz hat sich lange schwer getan mit dieser Anerkennung.

Es war lange bekannt, was in dieser «dunklen Zeit» in der Schweiz geschehen ist. Aber politisch war die Bereitschaft nicht vorhanden, sich dieser Sache, sich dieser Zeit zu stellen und entsprechende Massnahmen zu ergreifen. Ich denke, das Wichtigste war, dass die Betroffenen, die Opfer am gleichen Tisch sassen wie die Behörden. Das war aber am Anfang auch sehr schwierig, hat viel Kraft gekostet – gerade für die Betroffenen. Aber auch die Behörden mussten mit grosser Offenheit an die Arbeit gehen.

Ich denke, dass die Tatsache, dass sich die Opfer und die Behörden auf gewisse Massnahmen einigen könnten, auch eine Kraft entwickelt hat. Das hat politisch dazu geführt, dass das Parlament in Rekordzeit ein Gesetz verabschiedet hat, damit die Anerkennung dieses Unrechts im Gesetz steht und damit auch finanzielle Beiträge gesprochen wurden.

Bei den Gesuchen für einen Solidaritätsbeitrag lief es am Anfang aber harzig. Waren die Hürden zu hoch?

Wir haben sehr viel gemacht, dass die Hürden nicht hoch sind. Selbstverständlich mussten die Opfer auch wissen, dass sie überhaupt ein Gesuch stellen können. Dabei haben uns die Betroffenen auch unterstützt. Es war aber auch sehr wichtig, dass die Akteneinsicht ermöglicht wurde, dass die Opfer unterstützt wurden, wenn sie in einer Gemeinde, einem Gefängnis oder einem Kinderheim Akten einsehen wollten. Das war zum Teil ein sehr schmerzhafter Prozess.

Aber es gibt auch Opfer von Zwangsmassnahmen, die kein Gesuch stellen wollen. Sie haben mir gesagt, «ich möchte jetzt endlich vergessen können». Das müssen wir respektieren.

Es wurden insgesamt 9000 Gesuche eingereicht. Davon wurden erst 1400 bearbeitet. Die Betroffenen sind oft alte Personen. Dauert es nicht zu lange?

Am Runden Tisch wurde als erste Massnahme ein Soforthilfefonds gefordert und eingerichtet. Es ging darum, sehr schnell zu reagieren, wo Menschen krank sind oder die Unterstützung dringend brauchten. Wir tun alles, damit die Auszahlungen schnell stattfinden.

Gesuche von kranken Menschen oder solche, die das Geld dringend benötigen, werden vorgezogen.

Aber man musste auch die Frist für die Gesuchstellung abwarten, um zu wissen, wie viele es tatsächlich sind. Das Bundesamt für Justiz schaut jetzt, dass die Gesuche von kranken Menschen oder solchen, die dringend das Geld brauchen, vorgezogen werden.

Aber das gesprochene Geld wird nicht ganz ausgeschöpft.

Das Parlament hat im Gesetz einen maximalen Rahmen festgelegt. Drei Viertel dieses Rahmens werden jetzt ausgeschöpft. Wir wussten damals nicht, wie viele Gesuche gestellt würden. Es waren jetzt etwas weniger, aber ich bin froh, dass fast 9000 Menschen ein Gesuch gestellt haben, dem wir jetzt nachkommen können.

Wir wollen, dass die ganze Gesellschaft weiss, was passiert ist.

Der Runde Tisch hat also seine Aufgabe erfüllt. Ist nun alles gut?

Nein. Das Kapitel ist nicht abgeschlossen. Erstens läuft noch die historische Aufarbeitung. Bisher wussten vor allem die Opfer, die Betroffenen, vielleicht ihre Verwandten, was in unserem Land passiert ist. Wir wollen aber, dass es die ganze Gesellschaft weiss. Deshalb braucht es die historische Aufarbeitung. Wir sind alle dazu verpflichtet zu sagen, wir wollen nicht vergessen. Und wir müssen alles dafür tun, damit man in Zukunft besser hinschaut. Denn dies ist auch eine Geschichte des Wegschauens.

Die Fragen stellte Felicie Notter.

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