Wer eine Invalidenrente beantragt, hat in der Romandie oder im Tessin eine deutlich höhere Erfolgschance als im Rest der Schweiz. Und wer versucht, sich als Invalider oder Invalide wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, hat im Kanton St. Gallen deutlich bessere Aussichten als in den Kantonen Solothurn oder Wallis.
Das zeigt eine neue Studie der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse. Studienleiter Jérôme Cosandey hat dafür Daten des Bundesamts für Sozialversicherungen ausgewertet, die den Zeitraum 2010 bis 2015 abdecken.
Die Auswertung zeigt auch, dass die Kantone Appenzell-Ausserrhoden, Jura und Zug dreimal so viel Geld pro IV-Bezüger ausgeben wie beispielsweise das Tessin.
Von Kanton zu Kanton verschieden
Die grossen kantonalen Unterschiede erklärt Studienleiter Cosandey mit dem «relativ grossen Handlungsspielraum», welchen die Kantone bei der Umsetzung des IV-Bundesgesetzes hätten.
Dieser Handlungsspielraum werde aufgrund kultureller Unterschiede, aber auch aufgrund der Praxis kantonaler Gerichte, ganz unterschiedlich genutzt.
Einen Zusammenhang zwischen finanziellem Aufwand und Erfolg bei der beruflichen Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt gebe es jedoch nicht, betont Cosandey. «Es gibt Kantone, die sehr viel Geld ausgeben und trotzdem eine durchschnittliche IV-Rentenquote erhalten. Und es gibt Kantone, die weniger ausgeben und tiefe Rentenquoten haben.»
Effizienterer Einsatz der Mittel
Die Rentenquote ist das Verhältnis von zugesprochenen Renten pro Anmeldung. Eine Rente wird erst gewährt, wenn die invalide Person nicht mehr in den regulären Arbeitsmarkt integriert werden kann.
Angesicht der grossen kantonalen Unterschiede fordert Avenir Suisse jetzt, dass die Mittel mithilfe eines Kostendeckes effizienter einzusetzen seien. Gemeint ist damit ein maximaler Betrag für alle beruflichen Massnahmen pro IV-Stelle, gestützt auf die Anzahl Anmeldungen pro Jahr.
Laut Studienleiter Cosandey ist das Ziel, bei gleichen Ausgaben mehr Leute in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Das sei umso wichtiger, als wegen coronabedingter Erkrankungen eine neue Welle an Anträgen auf die IV zukommen dürfte.
Bund will Studie prüfen
Stefan Ritler, beim Bundesamt für Sozialversicherungen zuständig für die Invalidenversicherung, schliesst zwar nicht aus, dass bald tatsächlich mehr IV-Anträge gestellt werden könnten. Ob am Ende aber auch mehr Leistungen gesprochen würden, sei noch nicht absehbar.
Im Übrigen hält Ritler einen Kostendeckel für kein geeignetes Mittel, um zu erreichen, dass die Mittel der Invalidenversicherung in den Kantonen effizienter eingesetzt werden: «Es geht immer um Individuen, die einen Rechtsanspruch auf Leistungen haben.» Dass es dabei Unterschiede gebe und die Renten individuell zugesprochen würden, sei «eine Tatsache, mit der wir heute leben».
Trotzdem will das Bundesamt für Sozialversicherungen die Ergebnisse der Avenir-Suisse-Studie prüfen – und gegebenenfalls eigene Massnahmen ergreifen.