Und wieder «Für Elise». Beethovens Melodie ist in der Fabrikhalle des südkoreanischen Autobauers Kia im slowakischen Žilina das Signal, dass die Produktionsstrasse eine Station weiterrückt. Jede Minute fährt das Transportband einen weiteren Fahrzeugboden heran. Zwei gelbe Roboterarme positionieren millimetergenau die Seitenteile eines Kleinwagens, ein dritter lässt sanft das Dach herabschweben, ein weiterer schweisst: Ein Roboterballett, bei dem die Funken sprühen.
«Hier bekommt das Auto seine endgültige Form», erklärt Andrej Sahai. Der Kia-Angestellte führt Besucher durch das Autowerk. Er kennt jeden Quadratmeter in dieser Fabrik, die so gross ist wie 700 Berner Bundesplätze. Und Sahai kennt die Zahlen: 333'000 Autos sind letztes Jahr aus der Kia-Fabrik gerollt, fast jede Minute eines. Gebaut wurden sie von rund 400 Robotern und 3'800 Mitarbeitern.
An dieser Station, wo aus Boden, Dach und Seitenteilen ein Autoskelett wird, ist nur ein Mensch zu sehen und der prangt auf einer Fotografie: ein junger Mann mit Bart. «Das ist einer unserer Familienärzte», sagt Sahai. «So nennen wir die Leute, die für den Unterhalt der Roboter verantwortlich sind. Gibt es ein Problem, flitzen sie auf dem Fahrrad durch die Halle und versuchen es zu lösen.»
«Uns fehlen die Leute»
Solche Techniker sind schwer zu finden in der Slowakei. «Uns fehlen die Leute», klagt Branislav Hadár, der Chef der Kommunikationsabteilung von Kia Slovakia. Um die gut ausgebildeten Fachkräfte buhlen in der kleinen Slowakei vier grosse Autofabriken: Kia, VW, Peugeot/Citroën und seit letztem Jahr auch noch Jaguar/Land Rover.
In Žilina liegt die Arbeitslosigkeit unter drei Prozent. Und Zuwanderung kommt als Lösung auch kaum in Frage. Da sperrt sich die Regierung. «Der Fachkräftemangel ist aber auch ein Problem unseres Bildungssystems», sagt der Kia-Manager. «Vor allem die Berufsschulen reagieren viel zu langsam auf den technologischen Wandel.»
Ein Bildungssystem aus der Kaiserzeit
«Wir witzeln oft, es sei noch dasselbe Bildungssystem, das Kaiserin Maria Theresia im späten 18. Jahrhundert geschaffen hat», sagt der Ökonom Martin Vlachinsky vom Institut für ökonomische und soziale Studien in der Hauptstadt Bratislava. Und: «Das Schlimme dabei ist: Der Witz beschreibt beinahe die Wirklichkeit.» Die Lehrbücher und die Übungswerkstätten dieser Schulen seien veraltet, die Absolventen ungenügend auf die Arbeitswelt vorbereitet.
Die Berufsschulen reagieren viel zu langsam auf den technologischen Wandel.
Viele Universitäten in der Slowakei seien auch nicht viel besser, sagt Vlachinsky. Er sieht darin den Hauptgrund, dass viele kluge junge, Köpfe zum Studieren nach Grossbritannien, in die USA oder zumindest ins Nachbarland Tschechien gehen und von dort nicht mehr zurückkommen. Die Slowakei, sagt der Ökonom, leide unter einem «brain drain».
Die Chassis-Hochzeit
In der Montagehalle von Kia wird auch geheiratet. «Eine Chassis-Hochzeit bedeutet, dass der Motor in die Autokarosserie eingebaut wird», sagt Andrej Sahai. Ein Roboter hebt eine blau lackierte Karosserie auf einen Motor, die Trauung ist vollzogen. Vier kräftige Arbeiter mit Elektroschraubenziehern sind die Trauzeugen. Bis das nächste Mal «Für Elise» erklingt, haben sie den Motor fixiert.
Die vier Männer in den roten Arbeiterhosen verdienen gut. Ihr Lohn von 1500 Euro ist zwar nur rund ein Drittel von dem, was ein Bandarbeiter zum Beispiel in einer deutschen Autofabrik verdient, aber es ist das Eineinhalbfache des slowakischen Durchschnittslohn. Und es sind gut 200 Euro mehr, als sie noch vor zwei Jahren bekommen haben.
Branislav Hadár, der Kia-Manager, warnt, dieser Lohnanstieg könne der Fabrik in Žilina längerfristig gefährlich werden. Die Löhne in der osteuropäischen Autoindustrie steigen nämlich seit Jahren rascher als die Produktivität. «Das setzt uns unter Druck», sagt Hadár. Seine Sorge: Steigen die Lohnkosten weiter, könnten die Kia-Chefs in Seoul irgendwann beschliessen, die Produktion in ein günstigeres Land zu verlagern. Der deutsche Autokonzern VW, zum Beispiel, überlegt sich offenbar, ob er eine neue Fabrik in Serbien, Bulgarien, Rumänien oder in der Türkei bauen will. In all diesen Ländern sind die Lohnkosten tiefer als in Polen, Ungarn, Tschechien oder in der Slowakei.
«Žilina und Kia leben in einer Symbiose»
Für die Region rund um die Kleinstadt Žilina wäre ein Wegzug von Kia dramatisch. Der Autobauer ist hier mit Abstand der grösste Arbeitgeber. Bürgermeister Peter Fiabáne sagt: «Žilina und Kia leben in einer Symbiose. Seit die Südkoreaner vor 12 Jahren ihre Fabrik eröffnet haben, sind zum Beispiel die Steuereinnahmen massiv gestiegen. Und: Der Autobauer finanziert Sportvereine, Kulturveranstaltungen oder den Aufbau eines Veloverleihsystems.»
Fiabáne stört die Abhängigkeit nicht. Er will in der Stadt künftig noch mehr mit Geld von Kia auf die Beine stellen. Im Gegenzug will er sich bei der Regierung für eine Verbesserung der Infrastruktur einsetzen. «Ein Ausbau des Flughafens und der Autobahn Richtung Polen wären ein wichtiges Signal, dass wir uns um Kia bemühen.»
Klumpenrisiko Autoindustrie
Schon in der Vergangenheit hat die Slowakei Kia mit Investitionen, Subventionen und Steuerrabatten im Wert von mehreren hundert Millionen Euro umgarnt. Das ist nichts Unübliches, wenn Staaten versuchen grosse Investitionen wie eine neue Autofabrik anzulocken.
Allerdings habe es die Slowakei übertrieben, findet der renommierte slowakische Ökonom Juraj Stern. Die Regierungen hätten in den letzten zwei Jahrzehnten zu sehr auf die Autoindustrie fokussiert. «Es ist nicht gut, wenn sich ein Land dermassen auf ein Produkt konzentriert», sagt der Rektor der paneuropäischen Universität in Bratislava. «Wir müssen die Daumen drücken, dass wir bei der nächsten Rezession nicht in einer Katastrophe landen.»
Dieses Klumpenrisiko könnte sich auch im Zuge des Umbruchs in der Autobranche rächen. Fast alle Marken bereiten sich derzeit auf eine Zukunft vor, in der Elektroautos Benziner und Diesel von der Strasse verdrängen. Die Autobauer müssen ganze Produktionsketten neu aufbauen und werden sich überlegen, ob sie das in der Slowakei oder doch an einem anderen, günstigeren Ort tun wollen.