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Nora Zukker, ganz vertieft.
SRF 3
abspielen. Laufzeit 6 Minuten 49 Sekunden.
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Irma

Eine wilde, schöne und sehr seltene Liebesgeschichte.

Eine Freundschaftsanfrage per Facebook. Sie kommt von Irma. Die hat der Erzähler zuletzt vor 30 Jahren gesehen, als er mit ihr in Wien Wohnung und Bett teilte. Alles begann und endete mit einem Zettel auf dem Küchentisch.

Derart angestossen, beginnt er sich zu erinnern: An die reichlich dysfunktionale Beziehung zweier junger Menschen, die nicht wissen, ob sie in Gefühlsdingen besonders aufrichtig oder einfach nur bindungsunfähig sind. An frühere Stationen seines Lebens, erotische Suchbewegungen, Niederlagen anderer Art, Missbrauchserfahrungen, Reisen in die Welt hinaus bis nach China, Verletzungen, Unfälle, Musik.

Dies ist ein ganz und gar eigensinniger, sprunghafter, komischer, sehr unterhaltsamer und zugleich verstörender Versuch über Vergänglichkeit und Erinnerung, über das, was zurückschaut, wenn man autobiografisch hinter sich blickt, und über das, was dabei herauskommt, wenn man sich anschickt, aus der eigenen Biografie Literatur zu machen.

2014 gewann Tex Rubinowitz den Ingeborg Bachmann Preis.

 Leseprobe

Ich war ihr erster Freund, und sie war meine erste (echte) Freundin,
nach kleinen blinden Gehversuchen ohne Bedeutung, na gut, sie hat mal etwas von einem Franzosen erzählt. Unsere Freundschaft, oder besser: unser Zusammensein, war genauso pragmatisch, also unangreifbar, wie alles an und alles mit ihr. Wenn wir uns küssten, ließ sie die Augen offen. Ich assoziierte automatisch immer die Righteous Brothers: «You never close your eyes anymore when I kiss your lips», das soll den falschen Brüdern zufolge ja heißen, wenn man die Augen auflässt, ist es vorbei («You've lost that lovin' feeling»), aber was hat man denn vorher gesehen, wenn man die Augen geschlossen hat, den Vorgänger vielleicht? Einen Idealpartner? Einen Franzosen? Ist das nicht Betrug? Sie verschließen die Augen vor der Wirklichkeit, wie kleine Kinder, wenn die die Augen zumachen, existiert die Welt auch nicht mehr, oder eine, in der eine Katze mit einer Krone auf dem Kopf Präsident werden kann. Man klappt Leichen die Lider runter, damit die Lebenden nicht von den vorwurfsvollen Blicken der Toten belästigt werden, sie ertragen es nicht, so einfach ist das. Natürlich weiß ich, dass man beim Küssen die Augen schließen soll, um unabgelenkt den Moment zu genießen, aber das kann niemand beweisen. Ich vermute, dass die Mehrheit der Küssenden, die ihre Augen schließen, sich einen Ausweg zusammenknutschen, Motto: Bloß weg hier. Nur einmal, ganz kurz, ich gebe es zu, hab ich mir selbst vorgegaukelt, sie lässt die Augen vielleicht auf, weil sie Angst hat, ich würde abhauen -währenddessen. Aber wir küssten uns auch schon lange nicht mehr, Sex gab es natürlich auch keinen, ich kann das Wort nicht mal aussprechen, Sex, ein Wort wie eine Prothese. Von ihr kamen immer kryptische Meldungen, wie «mach dich doch nicht lächerlich» und Abwehrreaktionen, es tue ihr weh, das ginge nicht, wir müssten das verschieben. Ja, mein Gott, verschieben wir «es», ich zehrte ja immer noch vom Zucker in meiner Tasche. Beim Sex, machen wir uns doch nichts vor, ist man sich sowieso fremder als bei jedem anderen Kontakt zwischen zwei Zellhaufen, man beginnt vielleicht gemeinsam etwas (sechzig Sekunden Aufeinandergeklatsche), aber entfernt sich mehr und mehr, konzentriert sich doch nur auf sich, um am Ende in einer ratlosen Lähmung zu erstarren, wie zwei sterbende Karpfen. Was war das eben, wer oder was ist das da neben mir?

Tex Rubinowitz: Irma
Rowohlt Verlag, 237 Seiten
ISBN: 978-3-498-05799-2

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