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Nora Zukkern
SRF 3
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Kurzgeschichten: «Lettipark» von Judith Hermann

Judith Hermann war in den 90ern die wichtigste weibliche Stimme der Popliteratur. Die Stimme einer neuen Generation, rief das Feuilleton. Heute, zwanzig Jahre später sind ihre Figuren nicht mehr Mitte 20ig sondern Mitte 40ig. Verloren im eigenen Leben sind sie aber immer noch.

Ein Fotograf betrachtet seinen Adoptivsohn, interessiert und distanziert, wie eines seiner Bildmotive, und seine Frau sieht diesen Blick. Vielleicht wird darüber alles zerbrechen.
Ein alter Mann denkt an eine lange Reise nach Nantucket, die viele Jahre zurückliegt, zu Freunden, in ein Haus, das erst in Umrissen existierte. Walter hatte für ihn dieses Haus mit Worten in die Luft gezeichnet. Er glaubt sich an eine Umarmung zu erinnern, zum Abschied. Judith Hermanns Figuren sind manchmal ganz schutzlos. Umso intensiver sind ihre Begegnungen mit anderen, geliebten, fremden Menschen. Diese Momente geschehen beiläufig, unaufgeregt und entfalten unter der Oberfläche eine existentielle Wucht. In ihren Erzählungen spürt Judith Hermann diesen alles entscheidenden Momenten nach, unserer Einsamkeit und Wut und Sehnsucht.

Die wichtigste Stimme der Popliteratur in den 90ern

Gerade einmal 28ig war die Berlinerin Judith Hermann, als sie mit ihrem Debüt «Sommerhaus, später» berühmt wurde. ist Judith Hermann berühmt für ihren unverwechselbaren Ton, die Eleganz und Schönheit ihrer Sprache. Hauptsatz nach Hauptsatz. Minimalistischer Schreibstil. Das war neu und aufregend. Aber viel hat sich bei Judith Hermann seit ihrem Debüt 1998 nicht verändert. Muss auch nicht, weil ihr Stil nach wie vor überzeugt und sie mit Recht zu einer der wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur zählt. Aber heute bin ich mir nicht mehr so sicher, ob diese Verknappung in den neusten Erzählungen noch gleichermassen aufregend ist, weil viele andere tun es ihr heute gleich. Kritisch könnte man heute auch sagen, dass die Verknappung daher kommt, dass gar nichts ausgespart wird, sondern dass man eifach gar nicht viel mehr erzählen kann. Die Figuren in «Lettipark» könnten die grossen Geschwister der Figuren aus «Sommerhaus, später» sein, aber von Menschen Mitte 40ig wünsche ich mir doch, dass sie etwas mehr im Leben stehen und nicht mehr derart verloren sind wie vor zwanzig Jahren.

Leseprobe

Wie schön Elena gewesen ist! Ein mageres schönes Mädchen, schwarzäugig und dunkelbraun, angespannt wie eine Bogensehne und mit einer Röte im Gesicht, als würde sie sich immerzu in die Wangen kneifen. Elena war kräftig, mutig, heiter und gereizt, sie war immer auf der Hut. Sie trug Röcke über Hosen wie eine Zigeunerin, billigen Schmuck und keine Schminke, und ihre Haare waren so verfilzt, als würde sie den ganzen Tag im Bett liegen, rauchen, die Asche auf den Boden schnippen und die Beine breit machen. Abends jedenfalls ging sie arbeiten, in einer Kneipe in einer Straße mit kaputtem Kopfsteinpflaster, verfallenen Häusern, offenen Haustüren, Akazien rechts und links, Birken auf den Höfen. Im Winter roch es nach Kohle und im Sommer nach Ginster und Staub. Elena war eine, die sich am Abend die Haare mit einem Bleistift
zum Knoten hochsteckte. Sie zog einen rostroten Rock über eine minzegrüne Hose, schloss die Kneipe auf, kehrte mit dem Besen die Zigarettenstummel raus, nahm sich ein Bier, drehte die Musik auf und die bunte Glühbirnenkette zwischen den Akazienästen an. Später kamen alle vorbei. Elena war das schönste Mädchen der Straße. Elena steht vor Rose an der Kasse in der Markthalle, Rose erkennt sie zu spät, erst, als sie schon Erdbeeren, Zucker und Sahne aufs Band gelegt hat, erkennt sie Elena. Hätte sie Elena früher erkannt, wäre sie noch mal umgekehrt und hätte sich nach irgendwas umgesehen, aber nun gehts nicht mehr. Paul ist auch schon da, er legt seine Sachen zu ihren Sachen dazu, Fisch in der Büchse, Tabak und eine
Flasche Port. Elena sieht nicht hin. Sie ist schwer und alt geworden, phlegmatisch und langsam, sie ist unverkennbar Elena – Mandelaugen und Haare wie Schlangen, eine Haut, der man die Wärme ansieht, und sie ist immer größer als alle anderen –, aber sie scheint da in etwas hineingeraten zu sein. Sie hat jemanden bei sich, einen Inder, stämmig, energisch und kräftig, kann sein mit einer Neigung zur Gewalttätigkeit und ein wenig verwahrlost, er trägt staubige Badelatschen an den Füßen, und sein geblümtes Hemd ist fleckig. Der Inder ordnet die Dinge auf dem Band. Reicht sie der Kassiererin, nimmt sie wieder in Empfang, er packt auch ein,
Elena steht nur daneben. Abwesend. Mit hängenden Armen. Tomaten, Basilikum im Topf, Kerzen und Reis. Zigaretten. Zwei Flaschen Whiskey. Elena holt ein Portemonnaie aus der Tasche und klappt es auf wie ein Buch. Sie hebt den Kopf und sieht Rose
an. Mit welchem Ausdruck? Rose kanns nicht erkennen. Elena sieht aus wie eine traurige Riesin. Eine schwermütige, verzauberte Riesin.

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