Zum Inhalt springen

Header

Audio
Michael Gielen wurde 1927 als sogenannter «Halbjude» in Dresden geboren.
Imago/Thomas Frey
abspielen. Laufzeit 60 Minuten 2 Sekunden.
Inhalt

An die Musik statt an sich selber denken – Michael Gielen zum 90.

Er war Klassenbester und Buhmann in Dresden, Emigrant und Korrepetitor am Teatro Colón in Buenos Aires, Chef der Oper Frankfurt und gilt als Intellektueller unter den Dirigenten: Michael Gielen.

Quotendenken ist ihm suspekt, denn Musik ist dazu da, den Menschen «die Konflikte ihrer Zeit und ihres Inneren paradigmatisch vorzuführen».

Mit fünf Jahren schleppten ihn die Eltern in eine Generalprobe von Hänsel und Gretel und entfachten in der Dresdner Oper einen Familienstreit. «Mama, wann hören die endlich auf zu singen?», brüllte Michael, und wurde «herausgeführt». Das erste Opernerlebnis liess kaum darauf schliessen, dass Michael Gielen als Chef der Oper Frankfurt (1977–1987) Geschichte schreiben sollte. Die Zusammenarbeit mit der streitbaren Regisseurin Ruth Berghaus und dem Chefdramaturgen Klaus Zehelein verkörperte den kompromisslosen Anspruch an ein Musiktheater der Gegenwart. Inszenierungen wie Wagners Ring (Ruth Berghaus) oder Verdis Aida (Hans Neuenfels) hatten Skandalwirkung und sicherten dem Haus den Ruf der Avantgardeoper.

Michael Gielen dirigierte Beethovens Sinfonien schon in den 1960er Jahren in jenen raschen Tempi, für die sich später die historisch informierten Interpreten stark machten. Und Mahlers berühmtes Adagietto aus der 5. Sinfonie bannt er er in kurzen acht Minuten dreissig – eine halbe Minute kürzer als Mahler selbst und deutlich kürzer als die meisten Dirigenten. Die Partitur ist Gielens Wegweiser für die Interpretation, sein Berufsprinzip ist es, «grosse Form und einzelnes Detail in ein Gleichgewicht zu bringen». Gielen steht in der aussterbenden Tradition der komponierenden Dirigenten, den Mut zu komponieren verdankt er dem Komponisten und Posaunisten Vinko Globokar. Komponieren ist bis ins hohe Alter möglich geblieben, es ist ein Kind «meines Geistes, meiner Seele».

Corinne Holtz hat Michael Gielen mehrmals zum Gespräch getroffen und sich mit ihm über die bewegten Kapitel seines Lebens und Wirkens unterhalten – auch über den Aufstieg des Nationalsozialismus und seine Existenz als so genannter «Halbjude» in Dresden.

Gespielte Musik

Mehr von «Musik unserer Zeit»