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Nora Zukker
SRF 3
abspielen. Laufzeit 8 Minuten 1 Sekunde.
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Der erste fiese Typ

Nichts ist normal. Alles ist sehr unterhaltsam, kompliziert und dreckig. Und vollkommen verrückt. Für die sprachliche Sorgfalt hätte sich Miranda July etwas mehr Zeit nehmen müssen, aber diesem Pageturner sei dies für einmal verziehen.

Miranda July, Filmemacherin, Künstlerin, Autorin, sprengt nach ihrem spektakulären Erzählungsband «Zehn Wahrheiten» mit ihrem ersten Roman alle Erwartungen. Einen Roman wie diesen habt Ihr noch nicht gelesen. Cheryl Glickman ist eine Mittvierzigerin mit System: Sie besitzt nur, was sie wirklich benötigt (einen Teller, eine Gabel, einen Löffel) und bündelt ihre Energien maximal (Wenn Sie schon ein Buch lesen müssen, dann tun Sie es doch gleich neben dem Bücherregal und halten den Finger in die Lücke, damit Sie es dann wieder zurückstellen können!).


Cheryl arbeitet bei einer Firma, die Selbstverteidigung zu Fitnesszwecken lehrt, sie ist seit Jahren verliebt in den 20 Jahre älteren Philipp (der wiederum eine 16-Jährige begehrt) und von dem Gedanken überzeugt, dass sie beide eigentlich seit Jahrtausenden ein Paar sind (Höhlenmann und Höhlenfrau). Als die Tochter ihrer Chefs bei ihr einzieht, wird ihre Ordnungs-Obsession gnadenlos zerstört: Clee, 20 Jahre alt, ist ein Messie, hat Schweissfüsse und keinerlei Manieren. Und sie greift Cheryl körperlich an. Bald kämpfen die beiden nach Vorlage der alten Selbstverteidigungsvideos von Open Palm. Eine Choreografie, die Cheryl ganz neue körperliche Erfahrungen verschafft. Die beiden werden ein Paar, zumindest eine Art Paar, und als Clee schwanger wird, übernimmt Cheryl die Rolle ihres Lebens: Sie wird Mutter.


Leseprobe
Es war nicht klar, wie oder warum wir uns prügeln sollten, jetzt wo wir uns offiziell darauf geeinigt hatten. Ein paar Mal schien sie kurz davor zu sein, irgendetwas anzufangen, überlegte es sich dann aber doch anders. Und ich selbst konnte aus naheliegenden Gründen nichts vom Zaun brechen - das wäre verkehrt gewesen. Das Ganze, wenn es überhaupt je irgendetwas gewesen war, wurde von Tag zu Tag absurder und peinlicher. Ich ging so oft wie möglich ins Büro und rief: "Eigentlich bin ich gar nicht da!", wenn ich eintrat, da ich ja offiziell von zu Hause aus arbeitete. Carl gab mir eine scharfe Thai-Sauce mit, für Clee. "Hast Du schon mal was Scharfes mit ihr gegessen? Ja? Ist sie nicht unglaublich?" Ich nickte stumm und liess die Flasche im Kofferraum liegen. Am nächsten Morgen war Clee in der Küche, als ich auch hineinmusste, sodass wir beide gleichzeitig im Raum waren. Es herrschte eine angespannte Stimmung. Sie liess einen Deckel fallen und hob ihn steif wieder auf. Ich hustete und sagte "Verzeihung". Das war lächerlich; es war höchste Zeit, unser Abkommen für nichtig zu erklären und abzuhaken. "Hör mal", sagte ich, "weder du noch ich.." "Mach mal so", unterbrach sie mich und hielt sich die rechte Gesichtshälfte zu. Ich tat spiegelverkehrt das Gleiche und kniff dabei das Auge zu, für den Fall, dass gleich eine Ohrfeige oder ein Faustschlag kam. "Dachte ich es mir doch", sagte sie. "Die eine Hälfte deines Gesichts ist viel hässlicher und älter als die andere. Die Poren sind ganz gross, und es sieht aus, als würde dir das Lid ins Auge rutschen. Ich will ja nicht sagen, dass die andere Seite gut aussieht, aber wenn beide so aussehen würden wie die linke, würde man dich für Siebzig halten." Ich nahm die Hand herunter. So hatte noch nie jemand mit mir gesprochen, so grausam. Und dabei so aufmerksam. Das Lid rutschte mir tatsächlich ins Auge. Meine linke Seite war schon immer hässlicher gewesen. Sie hatte sich für diese kleine Ansprache wirklich Gedanken gemacht - es war nicht bloss achtlose Feindseligkeit. Ich sah hoch auf ihre zu dünn gezupften Augenbrauen und überlegte, ob mir wohl auf die Schnelle ein paar Sätze zu ihrem eigenen dummen Bullengesicht einfielen, und dann sa ich ihre Hände; sie rieben aufgeregt über ihre fusseligen Hosenbeine, und ihr Mund stand offen. Diese kleine Demütigungsode hatte sie auf Touren gebracht; sie konnte es kaum erwarten zuzuschlagen, und als sie die Furcht in meinem Gesicht sah, schien sich ihr Körper regelrecht aufzuladen. Mit einem lauten Klatschen fing mein Unterarm ihre Hand ab.


Miranda July
Der erste fiese Typ
Titel der Originalausgabe: The First Bad Man
Aus dem amerikanischen Englisch von Stefanie Jacobs
Kiepenheuer & Witsch, 332 Seiten
ISBN: 978-3-462-04770-7

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