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Stapel mit den Büchern von Saša Stanišić, Ivna Žic, Melinda Nadj Abonji und Marko Dinić
Legende: Glück hat, wer sich geografische Wünsche erfüllen kann Annette König schätzt sich glücklich, die Bücher von Saša Stanišić, Ivna Žic, Melinda Nadj Abonji und Marko Dinić zu Hause auf der Terrasse ihres Elternhauses lesen zu dürfen. Nicht weil sie muss, sondern weil sie kann. SRF

Die BuchKönig bloggt Was ist Herkunft?

Herkunft ist Grossmutter. Herkunft ist Krieg. Saša Stanišić, Ivna Žic, Melinda Nadj Abonji und Marko Dinić schreiben in ihren Büchern über ihre jugoslawischen Wurzeln und biografischen Brüche. Geistreich, fesselnd, zartbittersüss! Denn: Sie sind in einem Land geboren, das es heute nicht mehr gibt.

«Herkunft» von Saša Stanišić

Das Buch  «Herkunft» von Saša Stanišić liegt auf einem Steinboden
Legende: 1. Satz:«Grossmutter hat ein Mädchen auf der Strasse gesehen.» SRF

Was ist Herkunft? Einfach mal Saša Stanišić lesen! Denn da räumt einer auf mit Balkan-Klischees, Nationalismus und übertriebenem Herkunftsstolz. Wo man geboren werde, gebäre der Zufall. Fasziniert verschlinge ich Stanišićs familiäre Spurensuche. Reise mit ihm nach Bosnien. In das Dorf, wo nur Stanišićs auf dem Friedhof liegen. Erfahre, wie das war, für Tito und Crvena Zvezda - Roter Stern Belgrad - Fähnchen zu schwingen. Doch dann änderten sich die Zeiten. «Der Kommunismus wurde müde und der Nationalismus wach». Und zu Ende gings mit dem Jugoslawischen Vielvölkerstaat. Mit vierzehn Jahren musste Stanišić mit seinen Eltern nach Deutschland fliehen.

Heute lebt und arbeitet der Schrifsteller in Hamburg. «Herkunft» ist sein persönlichstes Buch. Es liest sich wie YU-Rock'n'Roll. Es ist eine Hommage an Grossmutter und an das alte Jugoslawien. Es ist Erinnerung und Fiktion. Und es ist Saša Stanišićs Antwort auf die drängendsten Fragen unserer Zeit. Klug, innovativ und witzig. Ich sage nur: Deutscher Buchpreis 2019!

«Tauben fliegen auf» von Melinda Nadj Abonji

Der Roman «Tauben fliegen auf» von Melinda Nadj Abonji liegt auf einer Steinplatte
Legende: 1. Satz: «Als wir nun endlich mit unserem amerikanischen Wagen einfahren, einem tiefbraunen Chevrolet, brennt die Sonne unbarmherzig auf die Kleinstadt, hat die Sonne die Schatten der Häuser und Bäume beinahe restlos aufgefressen, wir recken unsere Hälse, um zu sehen, ob alles noch so ist wie im letzten Sommer und all die Jahre zuvor.» SRF

Der Roman «Tauben fliegen auf» erzählt die Migrationsgeschichte einer ganz normalen Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien. So zärtlich und berührend, dass mir bei der Lektüre die Tränen kommen.

Die Kocsis sind Ungarn und leben in einer Kleinstadt in der serbischen Vojvodina. Ihre Sippschaft ist gross. Grosseltern, Onkel, Tanten, Cousins leben dort. Doch einer der Kocsis hat schon längst genug vom Kommunismus. Er wandert mit Frau und Kinder in die Schweiz aus. Die Mädchen sind damals im Vorschulalter.

Schweiz, in den 80er und 90er Jahren. Vater und Mutter Kocsis sind fleissig, arbeiten sich hoch. Vom Bauarbeiter zum Koch, von der Wäscherin zur Cafeteria-Besitzerin. Die beiden Töchter, Nomi und Ildiko wachsen behütet auf. Doch dann bricht in ihrer Heimat der Krieg aus. Fertig mit den fröhlichen Ferienfahrten im Amischlitten runter zu den Verwandten. Fertig mit den ausgelassenen Familienfesten in lauen Sommernächten. Fertig mit den besten Palatschinken der Welt, die Grossmutter Mamika mit kohlesäurehaltigem Mineralwasser zubereitet. PS: dann kleben sie nicht und werden luftig.

Ildiko beginnt die Schwere ihrer Herkunft zu spüren. Die wachsende Skepsis der Schweizer Bevölkerung gegenüber den Menschen aus dem Balkan. Und als dann ein Gast in der Cafeterie mutwillig das WC mit Scheisse verschmiert, flattert es im Taubenschlag.

Melinda Nadj Abonji hat für diesen fesselnden und historisch aufschlussreichen Roman «Tauben fliegen auf» im Jahr 2010 den Deutschen und den Schweizer Buchpreis erhalten. Wow!

«Die Nachkommende» von Ivna Žic

Der Roman «Die Nackommende» von Ivna Žic liegt auf einer Steinplatte
Legende: 1. Satz: «Sie schnarcht.» SRF

Was für ein Debüt! Ivna Žics Sprache springt mich an. Das Präzise, das Atemlose, das Befremdliche. Eine junge Frau reist mit dem Zug von Paris nach Zagreb. Erinnerungen und Gedanken füllen das stickige Abteil. Erst vor drei Tagen ist sie noch in einem anderen Zug gesessen. Im TGV Zürich-Paris, um mit ihrem Freund Schluss zu machen. Weil ihre Beziehung keine Zukunftsperspektive hat. Sie ist innerlich zerrissen. Nicht nur wegen ihrem Geliebten, sondern auch wegen ihrer Herkunft. Eine Seconda, die sich «inbetween» fühlt. Als Fünfjährige kam sie in die Schweiz. Fuhr mit den Eltern in den Ferien und an allen Festtagen zu den Verwandten nach Kroatien runter. Und jeden Sommer zu den Grosseltern ans Meer. Stundenlang die immer gleichen Zug- und Busfahrten, die immer gleichen Wiederholungen, die Zeitfresser sind.

Žics Protagonistin lehnt sich gegen diese familiären Pflichten auf. Sie will keine «Nachkommende» sein, sondern eine junge, selbstbestimmte Frau. Eine reife Coming-of-Age-Geschichte und eine interessante Reise in die Vergangenheit Kroatiens. Merci vilmal Gospodjo Žic! Sie sind für mich eine heisse Antwärterin auf den Schweizer Buchpreis 2019.

«Die guten Tage» von Marko Dinić

Der Roman «Die guten Tage» von Marko Dinić liegt auf einer Steinplatte
Legende: 1. Satz: «Wir fuhren schon seit einer Stunde.» SRF

Marko Dinić erzählt in seinem Debüt «Die guten Tage» von einer Jugend in Belgrad. Wie sein Alter Ego als Kind Tito und Milošević geliebt und den Nato-Fliegern den Hintern gezeigt hat. Heute – 20 Jahre später – liebt Dinić niemanden mehr. Er rechnet ab mit der kriegerischen Väter-Generation. Eindringlich und knallhart. Mehr über dieses grossartige Buch erfahrt ihr hier im Blog.

Marko Dinić beschreibt bildstark und präzise die Lebenssituation und den Alltag in Serbien. Wie hart der Überlebenkskampf ist, wenn man nicht zur Elite gehört. Man merkt, dass sich der Autor sehr gezielt mit Herkunft, Identität und Exil auseinandergesetzt hat. Auch wie er eine Reise im Gastarbeiterexpress als «Abziehbild des ehemaligen Jugoslawien» beschreibt, ist phänomenal. Viele Serben haben sich als Gastarbeiter im Ausland eine Identität aufgebaut. Wenn ihr mal die Chance habt, lasst euch auf eine solche Busreise ein. Sie wird bestimmt ein Erlebnis sein!

Bücherliste

  • Saša Stanišić: «Herkunft» (Luchterhand, 2019)
  • Melinda Nadj Abonji: «Tauben fliegen auf» (Jung und Jung, 2010)
  • Ivna Žic: «Die Nachkommende» (Matthes & Seitz Berlin, 2019)
  • Marko Dinić :«Die guten Tage» (Zsolnay, 2018)

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