Als während dem Boston-Marathon am 15. April 2013 zwei Rucksäcke mit Sprengsätzen explodierten und drei Menschen starben, sammelte die Polizei innert kürzester Zeit tausende Stunden Videomaterial: Filme von Überwachungskameras genauso wie private Handyvideos. Hunderte Ermittler arbeiteten Tag und Nacht daran, die Attentäter in den Videos aufzuspüren. Nach drei Tagen konnten sie Bilder der Attentäter veröffentlichen. Nach vier Tagen wurden die Täter von der Polizei festgesetzt.
Die schnelle Auswertung war nur aufgrund der Manpower möglich, die in den Fall gesteckt wurde. Doch so viele Ermittler sind nur in Ausnahmefällen verfügbar. Die Anschläge von Boston haben gezeigt: Es braucht dringend moderne Software zur schnellen Auswertung und Überprüfung von Video-Material.
Eine neue Art von Beweisen
In einer Welt, wo jeder ein Smartphone in der Tasche herumträgt, werden Handyvideos immer häufiger zu wertvollen Beweisen. So entstand ein neuer Berufszweig: Die Video-Forensik. Sie befasst sich mit Erfassung, Analyse und Auswertung der Videos. Dabei steht sie vor zwei grossen Herausforderungen: Erstens den Inhalt von vielen Stunden Filmmaterial möglichst schnell zu erfassen und zweitens gefälschte Videos oder Sequenzen aufzuspüren.
Professor Dirk Labudde von der Hochschule Mittweida in Deutschland arbeitet mit einem Kollegen an einer Software, die das erste Problem lösen soll: Mit Hilfe von Bewegungserkennung sollen aus einer Flut von Daten untypische Bewegungen erkannt werden. «Wenn jemand in eine andere Richtung als alle anderen läuft, erkennt das Programm das», erklärt Labudde. So könnte zum Beispiel ein fliehender Attentäter identifiziert werden.
Grosses Potential
Die Video-Forensik ist ein Untergebiet der Digitalen Forensik (siehe Box), die sich mit der Auswertung von jeder Art von digitalen Spuren befasst: Dazu gehören nicht nur Videos, sondern auch Fotos oder Sprachaufnahmen. Labudde hat im letzten Jahr in Mittweida einen Bachelorstudiengang in Digitaler Forensik ins Leben gerufen – er ist der zweite derartige Studiengang in Deutschland. In der Schweiz gibt es bisher nur Studiengänge in allgemeiner Forensik. «Die Resonanz ist riesig – im ersten Jahr haben sich schon 250 Studenten bei uns beworben», meint Labudde, «und der Bedarf an den Absolventen bei den Ermittlern und in der Industrie ist gross.»
In den Polizeistationen gibt es heute nur selten speziell ausgebildete Forensiker. «In unserem digitalen Zeitalter ist das aber sehr wichtig», meint Labudde. Oft werden Videos von der Polizei in Zusammenarbeit mit Universitäten oder spezialisierten Firmen ausgewertet, die einspringen, wenn die Ermittler an ihre Grenzen stossen. Die Gerichte und die Polizei erkennen aber, dass das effiziente Auswerten von Videos, Fotos und anderen Daten immer wichtiger wird. «Man arbeitet daran, dass Digital-Forensiker ein Bestandteil jeder Polizeistation werden,» erklärt Labudde.
Kampf gegen die Video-Fälscher
Neben der schnellen Auswertung wird auch die Erkennung von gefälschten Videos immer wichtiger. Durch moderne Bearbeitungsprogramme wird es immer einfacher, Videos zu fälschen. Das sieht man eindrücklich an den Filmen, die auf YouTube tausendfach angeklickt werden. Zum Beispiel dieses Video, in dem ein Mann etwa 100 Meter weit fliegt – mit Hilfe von ihm auf den Rücken geschnallten Flügeln. Oder das berühmte Video eines Adlers, der angeblich ein Baby in einem Park zu stehlen versucht.
Stefano Tubaro und sein Team von der Universität Milano sehen sofort, wenn sie ein gefälschtes Video vor sich haben. Mit zwei EU-Forschungsprojekten haben sie der Video-Fälschung den Kampf angesagt. Ihr entwickeltes Programm scannt die Filme, sucht nach Unterschieden in der Art der Bilder und gleicht Schatten von Gegenständen oder Personen ab – denn die sind besonders schwierig zu fälschen. Das Programm soll in Zukunft auch in Polizeistationen zum Einsatz kommen, um Videos auf ihre Echtheit zu überprüfen.
Die Zukunft der Forensik
Noch kann das Programm aber nicht angewendet werden, um direkt auf der Polizeistation Videos schnell zu analysieren. «Das Problem ist, dass diese Programme aufgrund ihrer Komplexität bis jetzt nur von ausgebildeten Experten bedient werden können», meint Tubaro, «aber wir arbeiten daran, dass es einfacher wird.» Das Ziel soll sein, dass jeder, auch Laien zuhause, die Software bedienen kann.
Auch Professor Labudde sieht noch viele Herausforderungen für die Video-Forensik: «Die deutschsprachigen Länder sind in dieser Hinsicht eine kleine Wüste.» Jede Universität bastle sich ihre eigene Software zusammen. So sei zwar das Know-How da, aber die Anwendung in der Praxis fehle. «Die Algorithmen haben wir, aber jetzt müssen sie noch in richtig gute Software gegossen werden – zum Beispiel, damit die forensischen Institute Daten untereinander austauschen können.»