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Digital Pfeifen im Telefonnetz

Hacking verbinden wir mit dem digitalen Zeitalter. Doch die Hacker haben Vorfahren: Die Phreaker waren frühe Technikpiraten, die ab den 1960er-Jahren weltweit die analogen Telefonleitungen manipulierten. Sie sollen sogar den damaligen US-Präsidenten Richard Nixon an den Hörer bekommen haben.

Telefone waren Joe Engressias erste grosse Liebe. Der blinde Junge verbrachte Stunden über Stunden am elterlichen Telefon in Virginia, USA. Es war die analoge Zeit, in der die Telefonnetze noch über Töne funktionierten und die Geräusche zwischen den Gesprächen begeisterten den Jungen: das Surren, Knacken, Pfeifen.

Schon mit sieben Jahren fand Joe heraus, dass dies die Töne waren, die das Telefonsystem kontrollierten. Ohne Mühe gelang es ihm von nun an, das System nach Lust und Laune zu manipulieren. Er war ein «Phreaker» der ersten Stunde.

Von Verbindung zu Verbindung, von Stadt zu Stadt

Phone Phreaker – so nannten sich die Hacker, die ab den 1960er-Jahren im weltweiten Telefonnetz ihr Unwesen trieben. Sie führten kostenlose Telefonate ins Ausland oder Telefonkonferenzen zu Hunderten, liessen sich so oft wie möglich hin- und her verbinden oder bauten für simple Ortsgespräche sinnlos lange Verbindungen um die ganze Welt auf – in einer Zeit, in der Ferngespräche noch ein kleines Vermögen kosteten.

Doch mit einer Person am anderen Ende der Leitung zu sprechen, darum ging es den technikbegeisterten jungen Menschen gar nicht. Sie hatten Wonneschauer bei dem Gedanken, das komplizierteste technische System der Zeit zu kontrollieren. Das Telefonnetz war ihr Spielplatz und es zu hacken, ein riesiges Abenteuer.

Dazu mussten die Phreaker nur die richtigen Töne zur richtigen Zeit nachahmen. Jedem Befehl war ein bestimmter Ton zugeordnet, jede Ländervorwahl oder Telefonnummer als individuelle Tonabfolge darstellbar. Gelang es, die Tonabfolge zu simulieren, konnten sie das System austricksen. Ihre Telefonate begannen die Phreaker mit einer kostenlosen 0800-Nummer – und einem Pfiff auf einer Frequenz von 2600 Hertz.

2600 Hertz – der magische Ton

Dieser 2600 Hertz-Ton war der Schlüssel zur Telefonpiraterie. Für das System war er das Zeichen, dass das bestehende Gespräch beendet und die Leitung frei war. Nun musste nur noch die Tonabfolge der Zielnummer durchgegeben werden. Wohin der Anruf schliesslich ging, wusste nur der Phreaker: Für die Telefonanbieter war es immer noch ein kostenloses 0800-Gespräch.

Audio
Fiiiiiiiiep: So klingt der 2600-Hertz-Ton
00:30 min
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Der blinde Junge Joe Engressia – der sich inzwischen Joybubbles nannte – war in der frühen Hackerszene ein Star, weil er sich dank seines absoluten Gehörs problemlos durchs Telefonnetz pfeifen konnte. Alle anderen fanden den begehrten 2600-Hertz-Ton auf dem Frühstückstisch: Zu jener Zeit lag nämlich jeder Cornflakes-Packung der Marke Cap’n Crunch eine kleine Trillerpfeife bei, die genau die Frequenz von 2600 Hertz erzeugte. «Wir konnten im Flughafen an einer Reihe von Münztelefonen vorbeigehen und pfeifen – und schon wurden alle Telefonate unterbrochen!», erzählt ein weiterer Phreaker-Pionier noch Jahre später begeistert: John Draper.

Phreaking boomt

Der Bastler liebte das Telefonsystem ebenso sehr wie Joe Engressia, mit dem er befreundet war. Unter dem Pseudonym Captain Crunch – eine Hommage an die Cornflakes-Pfeife – wurde er zur Legende, weil er die berühmten Blue Box konstruierte: ein einfaches Gerät, das auf die Sprechmuschel des Telefonhörers aufgesetzt wurde und die notwendigen Töne fürs Phreaking per Knopfdruck generierte. Selbst die beiden späteren Apple-Gründer Steve Wozniak und Steve Jobs «phreakten» mit der Blue Box. Ein heute legendärer Zeitungsartikel hatte sie auf die Hacker aufmerksam gemacht.

Der junge Steve Wozniak am Telefon, die Bluebox in der Hand.
Legende: Phreaker Steve Wozniak: Auch der Apple-Mitbegründer kam über den Esquire-Artikel zum Phreaking. Seine Blue Box baute er selbst. http://woz.org

In seiner Reportage «Secrets of the Little Blue Box», die 1971 im US-amerikanischen Magazin «Esquire» erschien, schrieb Autor Ron Rosenbaum über die Subkultur der Telefonpiraten – und er beschrieb en Detail, wie Captain Crunch, Joe Engressia und viele andere mit dem Telefonsystem spielten. Nach diesem Artikel, erinnert sich John Draper, habe er gewusst: «Phone Phreaking, wie ich es kannte, war vorbei.»

Tatsächlich boomte das illegale Hobby auf einmal und die Grenze zwischen Technikbegeisterung und kriminellen Machenschaften verschwamm immer mehr. Die Folge war ein knallhartes Vorgehen der Telefongesellschaften gegen die Phreaker. Es kam zu Festnahmen, auch Draper und Engressia wurden verurteilt.

Das System schlagen

Doch das Phreaking, wie Draper es gekannt hatte, war nicht nur aufgrund des Zeitungsartikels Geschichte. Mitte der 1970er-Jahre ersetzte die Digitalisierung das tonbasierte Telefonnetz. Und schon im «Esquire»-Artikel hatte ein weiterer Phreaker es auf den Punkt gebracht: «In letzter Zeit spiele ich lieber mit Computern als mit Telefonen. Bei beiden geht es um den Kick herauszufinden, wie man das System schlagen kann.»

Es war die Anfangszeit der Personal Computer. Es ging um Experimentierfreude und Technikbegeisterung. Von Cybercrime sprach man erst sehr viel später.

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