Das Baby auf den Arm zu nehmen, wenn es schreit, war gestern: Heute müssen Eltern den Schreihals kurz um Geduld bitten, ihr Handy zur Hand nehmen und mit einem Fingertipp die App «Infant Cries Translator» aktivieren. Die App nimmt dann zehn Sekunden Schreien auf, lädt die Sounddatei auf einen Server, der das Schrei-Profil des Babys analysiert. Dann wird den Eltern anzeigt, ob das Kind hungrig oder müde ist, Schmerzen hat oder einfach in die Windeln gepinkelt hat und sich deshalb unwohl fühlt.
Brauchen wir das? Eine Handvoll Eltern, bei denen ich zum Thema nachgehakt habe, meinte «Nein!». Die elterliche Intuition sei völlig ausreichend.
Forscher der National Taiwan University Hospital Yunlin, meinen «Ja!».
Ich finde: «Wieso nicht?» Die App kostet keine drei Franken, tönt verlockend und wenn sie als technisches Hilfsmittel eine Hilfe sein kann, ist das doch eine gute Sache.
Cloud und Algorithmen versus mütterliche Intuition
Geben wir der App also eine Chance. Schliesslich haben die Macher einigen Aufwand betrieben und werben mit wissenschaftlicher Präzision. Nach eigenen Angaben haben sie für die Entwicklung über einen Zeitraum von zwei Jahren mehr als 200'000 Schreie von rund 100 Babys aufgezeichnet.
Diese Schreie landeten in einem Cloudspeicher, einer Online-Datenbank, wo ein Algorithmus die Frequenzen der einzelnen Schreie analysiert und feine Unterschiede in der Akustik festgestellt habe. Dadurch sei man in der Lage gewesen, unterschiedliche Schreie den Bedürfnissen des Babys zuzuordnen.
Resultate scheinen willkürlich
Weil ich kein eigenes Baby habe und mir keines leihen mag, habe ich eine Kollegin und einen Kollegen um Hilfe gebeten. Sie haben mir Soundproben ihrer Kleinen geschickt – zusammen mit der Information, um welchen Schrei-Typus es sich handelt.
Diese Sounds habe ich dann der Übersetzungs-App vorgespielt. Das Resultat war – nun ja – vernichtend.
Zwei Babys, vier Töne, zwei Treffer
Baby-Schrei | Schrei-Grund | Analyse «Infant Cries Translator» | Ergebnis |
---|---|---|---|
Viola (1.5 Wochen) | Hunger | Hunger | Richtig |
Viola (1.5 Wochen) | Hunger | Schmerz | Falsch |
Malik (4 Wochen) | Hose voll | Schlaf | Falsch |
Malik (4 Wochen) | Hose voll (Ton ab Sek. 35) | Schmerz | Falsch |
Malik (4 Wochen) | Bauchkrämpfe | Schlaf | Falsch |
Malik (4 Wochen) | Bauchkrämpfe (Ton ab Sek. 35) | Schmerz | Richtig |
Nur zwei Mal lag «Infant Cries Translator» richtig: beim ersten Ton der 1,5 Wochen jungen Viola. Hier erkannte die App richtig, dass das Baby Hunger hat. Und auch beim Ton von Malik mit Bauchkrämpfen, allerdings nur an einer bestimmten Stelle der Aufnahme.
Die Resultate können beim selben Schrei-Typus also variieren. Bei den zwei besonders langen Tönen von Malik habe ich den Test an einer anderen Stelle der Aufnahme wiederholt: Die App hat einmal die ersten zehn Sekunden analysiert und dann ein zweites Mal ab Sekunde 35. Hatte Malik Bauchkrämpfe, meinte der Übersetzer beide Male, das Baby benötige Schlaf. Hatte Malik die «Hose voll», tippte die App bei der Anfangssequenz auf «Schlaf», bei der Sequenz ab Sekunde 35 auf «Schmerz». Beides ist falsch.
Fazit: Im – zugegebenermassen nicht wissenschaftlichen – Test übersetzt die App Babygeschrei nicht korrekt. Sie ist unzuverlässig und die Resultate erscheinen willkürlich. Wissenschaftler, die sich mit Sprachentwicklung und Kommunikation von Neugeborenen und Babys beschäftigen, erstaunt das nicht.
Wissenschafter winken ab
Kathleen Wermke leitet das Zentrum für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörung der Universität Würzburg und erforscht dort die Sprachentwicklung in den frühen Phasen des Säuglings- und Kleinkindalters.
In den ersten Monaten ihres Lebens legen Säuglinge wichtige Grundlagen für ihren späteren Spracherwerb – in der Art wie sie weinen.
Ein Beispiel: Je höher der Anteil komplexer «Melodien» im Weinen eines Babys ist, desto besser kann es später Wörter und Sätze produzieren und verstehen. Hier gibt es einen Zusammenhang.
Aus einem Schrei den Grund dafür abzuleiten, hält Kathleen Wermke, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen aber für unrealistisch. «Aus meiner Sicht ist grosse Vorsicht geboten», warnt die Wissenschaftlerin.
Auch Trix Cacchione, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen, Leiterin des Lehrstuhls für frühkindliche und vergleichende Psychologie der Universität Bern, ist skeptisch: «Babys schreien aus einem Unwohlsein heraus, nicht weil sie eine konkrete Botschaft kommunizieren wollen».
Schreiende Babys zu beruhigen, sei oft sehr schwer, erklärt Cacchione, und könne junge, unerfahrene Eltern schon mal zur Verzweiflung bringen. Natürlich seien diese dann verleitet, erstmal alles zu kaufen, was ihnen verspreche, einem Baby Wünsche quasi «von den Lippen» abzulesen und entsprechend zu handeln.
«Neben Keimzellen zur Produktion von Babys haben wir aber glücklicherweise auch einiges an Ausstattung dabei, das uns hinterher erlaubt ohne technische Ausrüstung mit einem Baby zu interagieren», meint Trix Cacchione.
Anders gesagt: Wenn wir das nur mit einer App schaffen würden, wäre mit Sicherheit grundsätzlich etwas schief gelaufen.