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Mädchenkoranschule in Afghanistan.
zvg Karin Wenger
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Lerneifer in Afghanistan

In Afghanistan gibt es eine grosse Erfolgsgeschichte: Kinder gehen wieder in die Schule. Unter den Taliban, die 2001 gestürzt wurden, war das kaum möglich - vor allem nicht für Mädchen.

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Doch die Herausforderungen sind gewaltig: Es fehlt an Lehrpersonal, die Klassenzimmer sind überfüllt und die Kinder müssen lange Wege zurücklegen.

Bildung gehört heute zum guten Ton in Afghanistan das war nicht immer so.

Die Szene wäre vor einigen Jahren nicht denkbar gewesen, nicht unter dem Taliban-Regime: Schülerinnen in schneeweissen Kopftüchern stehen auf einer Bühne und singen ein musikalisches Gedicht, eine Hymne an ihre Lehrer. «Die Lehrer umsorgen uns wie Gärtner ihre Blumen. Sie geben uns Hoffnung am Anfang des Jahres».

Die Mitschüler auf dem Schulhof hören gebannt zu. Es sind ein paar Dutzend Kinder mit braungebrannten Gesichtern und rauen Händen. Im Hintergrund leuchten schneebedeckte Berge. Das Dorf Pechgah in der Provinz Samangan im Norden Afghanistans erinnert an eine andere Welt, eine andere Zeit. Hier ging vor wenigen Jahren noch kaum ein Mädchen zur Schule. Jetzt drücken die meisten Kinder die Schulbank, lernen gar Englisch und haben Computer Kurse.

In Afghanistan hat sich seit dem Fall der Taliban im Jahr 2001 im Bildungsbereich vieles zum Besseren gewendet. Heute besuchen knapp vierzig Prozent aller Mädchen eine Schule. Neun Mal mehr Kinder drücken die Schulbank als zu Zeiten der Taliban. Doch Statistiken sind trügerisch. Sie sagen nichts über die Qualität und die Nachhaltigkeit der Bildung aus. Es fehlt an Schulräumen, qualifizierten Lehrern und vor allem an Lehrerinnen. Für die meisten Mädchen ist nach wenigen Schuljahren Schluss.

Sie wünschten, es wäre anders, sagen Haji Apa Gul und ihre Freundinnen. Die Frauen wohnen in einem kleinen Dorf im Norden Afghanistans. Jeden Tag treffen sie sich bei Haji Apa Gul, um Teppiche zu weben. Tratschend sitzen die Frauen vor einer Schale mit Bonbons und Dörrfrüchten und einer Tasse Grüntee auf dem Teppich von Haji Apa Guls Wohnzimmer. Probleme, nichts als Probleme, klagen die Frauen im Chor. Fassen sich an die Schultern, die vom stundenlangen Spinnen der Schafwolle schmerzen, und dann an den Kopf: «Blind sind wir, wie Tiere, nicht mal lesen und schreiben können wir. Ja, ein paar Jahre waren wir beim Mullah in der Moschee und haben gelernt zu beten, aber einige haben nicht einmal das gelernt».

Das Dorf hat zwar eine Schule, aber die einzige Lehrerin hat das Dorf nach wenigen Monaten verlassen. Jetzt unterrichten nur noch Männer und das sei ein Problem, klagen die Frauen und sprechen alle durcheinander: «Wenn wir die älteren Mädchen zu einem Mann schicken, dann beginnen hier alle zu tratschen. Sie werden sagen, dass das Mädchen eine Affäre mit dem Lehrer hat. Und dann wird es von seinem Bruder, Vater oder künftigen Ehemann getötet».

Mehr als 80 Prozent aller Schülerinnen werden in Afghanistan vor Abschluss der 6. Klasse aus der Schule genommen. So steht es in einem Bericht der Entwicklungsorganisation BRAC. Es gibt schlicht zu wenig Lehrerinnen. Das Problem ist bekannt - auch in der Hauptstadt Kabul. Dort, geschützt hinter Stahltüren, Mauern und Stacheldraht, lebt Rula Ghani, die Frau des Präsidenten Ashraf Ghani. In ihrem bunkerähnlichen Palast empfängt sie Frauen aus dem ganzen Land. Man müsse erfinderisch sein, um die Mädchen in die Schule zu locken, so Ghani, das habe sie von den Nichtregierungsorganisationen, den NGOs, gelernt, die auf dem Land arbeiteten: «Die NGOs versuchen die Mädchen in die Schule zu locken und sie dort zu behalten. Sie bringen den Mädchen nebst Lesen und Schreiben zum Beispiel auch ein Handwerk bei, mit dem sie dann Geld verdienen können. So billigen es die Eltern, dass auch ihre Töchter in der Schule bleiben, weil sie mehr lernen und mehr Geld verdienen».

Mit Hilfe internationaler und nationaler NGOs bildet die Regierung auch Schülerinnen, die die 12. Klasse abgeschlossen haben, zu Lehrerinnen aus. Es ist eine Notlösung, aber besser als gar keine Lehrerin für die Mädchen. Der Prozess hin zu mehr Bildung gehe eben langsam voran, meint die Präsidenten-Gattin Rula Ghani. Ohne Zweifel hat er in Afghanistan jedoch längst begonnen - auch in den entlegensten Tälern und Dörfern des Landes.

Im Dorf Pechgah sagt die 18-jährige Schülerin Gulbacht, die erst seit wenigen Jahren zur Schule geht: «Das Problem war, dass meine Eltern Bildung nicht wichtig fanden. Deshalb liessen sie mich nicht zur Schule gehen und ich musste stattdessen unsere Kühe und Schafe hüten. Vor ein paar Jahren begannen einige Eltern im Dorf ihre Mädchen zur Schule zu schicken. Die wurden Lehrerinnen und Hebammen».

Gebildete Mädchen bedeuten mehr Einkommen, weil auch sie später arbeiten können. Das verstehen heute in Pechgah viele Eltern. Gulbacht steht noch heute um drei Uhr auf, holt Kohle, heizt ein, verrichtet das Morgengebet, knetet den Brotteig und bereitet das Frühstück zu. Den Morgen verbringt sie mit Stickarbeiten, aber am Nachmittag darf sie nun in die Schule.

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