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Die Schattenseiten des Booms
Aus Kassensturz vom 22.09.2009.
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Gesundheit Private Alterspflege: Schattenseiten des Booms

Immer häufiger wünschen sich hilfsbedürftige alte Menschen eine Betreuung in ihren eigenen vier Wänden. Doch die wenigsten können sich eine 24-Stunden-Pflege der Spitex leisten. Diese Lücke füllen Firmen, die Frauen ohne Ausbildung aus Osteuropa holen.

Pflegehelferin Pia Vogler arbeitet beim Hausbetreuungsdienst für Stadt und Land, der grössten privaten Spitex-Firma in der Schweiz mit 1200 Angestellten. Sie kümmert sich um Ida Suter – die betagte Frau wird bald 100 Jahre alt. Ida Suter braucht jeden Tag intensive Pflege. Trotzdem wohnt sie in ihrem Haus in Basel. In ein Pflegeheim will sie nicht. Pia Vogler pflegt die betagte Frau seit 5 Jahren. Zusammen mit 3 weiteren Angestellten der Spitex-Firma betreut sie die 100-Jährige.

Rund-um-die-Uhr-Betreuung

Die Spitex-Firma stellt Ida Suter jeden Tag 7 Stunden in Rechnung. Die Angestellten sind ausgebildete Pflegehelferinnen. Sie arbeiten im Stundenlohn. Pia Vogler hat grosse Erfahrung mit der Pflege von alten Menschen und verdient im Schnitt 25 Franken pro Stunde. Täglich 7 Stunden Pflege und Betreuung kosten viel Geld. Pro Monat kassiert die Spitex-Firma 9500 Franken. Die Pflegekosten von 5000 Franken übernimmt das Amt für Langzeitpflege der Stadt Basel. Normalerweise bezahlen die Krankenkassen einen Teil davon, maximal 20 Stunden pro Monat.

Für die Betreuungskosten müssen in der Regel die Patienten selber aufkommen. Ida Suter zahlt der Spitex-Firma pro Monat im Schnitt 4500 Franken. Die Nachfrage nach privater Pflege in den eigenen vier Wänden ist gross. Der Markt wächst überdurchschnittlich stark. Es zeichnet sich dabei ein neuer Trend ab: die Rund-um-die-Uhr-Betreuung.

Im Internet übertreffen sich die Angebote. Mit schönen Bildern buhlen immer mehr Firmen ums Geld der Alten. Einige Betreuungsdienste bieten ausschliesslich junge Frauen aus Osteuropa an. Wie viele Firmen sich in dieser Branche tummeln, weiss niemand. Der Markt ist undurchsichtig.

Pflegearbeit selbst beigebracht

Marcel Durst ist Geschäftsführer des Verbandes der privaten Spitex-Firmen. Sein Verband garantiere mit einem Gütesigel qualifiziertes Personal und hohe Qualität. Der Wildwuchs bei den privaten Betreuungs-Firmen sei ein Problem. Durst: «Es gibt immer mehr Organisationen, bei welchen wir wissen, die wollen schnell zu Geld kommen und direkt abrechnen. Wir zweifeln ob die Qualität auch stimmt.»

Auch die 86-jährige Eleonora Gander lebt zu Hause. Seit ein paar Monaten arbeitet bei ihr Helga Wegener aus Ostdeutschland. Sie ist bei der Firma Hauspflegeservice angestellt. Wegener ist gelernte Gastronomin. Die Pflegearbeit hat sich die 56-Jährige selbst beigebracht. Jeweils drei Wochen am Stück kümmert sie sich um Frau Gander rund um die Uhr. In dieser Zeit wohnt sie bei ihr.

Für die intensive Arbeit erhalten die Betreuerinnen vom Hauspflegeservice maximal 3600 Franken Monatslohn. Doch davon zieht ihnen die Firma 33 Franken pro Tag für Kost und Logis ab. Helga Wegener bleiben netto rund 2500 Franken. Für die 24-Stunden-Betreuung aus Ostdeutschland verlangt die Firma 8274 Franken pro Monat. Reicht das private Vermögen nicht aus, kann die Seniorin Hilflosenentschädigung oder Ergänzungsleistungen beantragen.

Qualität in Frage gestellt

In den Nachbarländern ist die Rund-um-die-Uhr-Betreuung bereits weit verbreitet. Nun bieten auch in der Schweiz immer mehr Firmen diesen Dienst an, sagt François Höpflinger, Altersforscher an der Uni Zürich. Die ständige Präsenz bei den alten Menschen belaste die Psyche der Betreuerinnen enorm. Es bestehe die Gefahr, dass sie sich auszubrennen und sozial isolieren. «Darunter kann unter Umständen auch die Pflege leiden.» Auch zu Missbrauch und Gewalt gegenüber alten Menschen könne es kommen, weiss Höpflinger.

Jeweils 3 Wochen ist die Ostdeutsche Helga Wegener Tag und Nacht mit Frau Gander zusammen. Danach fährt sie nach Deutschland und wird in dieser Zeit von einer Kollegin abgelöst. Hanspeter Stettler – Helga Wegeners Arbeitgeber – beschäftigt für seinen Hauspflege-Service rund 100 Angestellte. Vor drei Jahren begann die Firma als Pionierprojekt. Heute macht sie einen Millionenumsatz mit Frauen aus Ostdeutschland.

Die meisten haben keine pflegerische Ausbildung. Die Qualität der Betreuung ist dadurch in Frage gestellt. Hauspflegeservice-Geschäftsführer Hanspeter Stettler: «Wir machen eine sorgfältige Selektion mit Führungszeugnis, mit Auszug aus dem Polizeiregister und mit einem persönlichen Gespräch.» Daneben würden unangemeldete Besuche gemacht, um die Situationen zu erfassen. Ausserdem sei der Hauspflegeservice innerhalb einer, zwei Stunden vor Ort oder per Handy erreichbar.

Verstoss gegen Arbeitsgesetz

Helga Wegener arbeitet 3 Wochen ohne einen Ruhetag. Das verstösst gegen das Arbeitsgesetz. Maximal 2 Wochen darf eine Betreuerin im Einsatz sein. Spätestens dann muss ihr der Arbeitgeber einen freien Tag gewähren. Hanspeter Stettler: «Wir sind auf die Wünsche unserer Frauen eingegangen, welche zu Beginn klar sagten: Vierzehntägige Einsätze seien ihnen zu wenig, sie möchten wegen der langen Anreisezeit drei Wochen arbeiten und dann drei Wochen zu Hause sein.» Ausserdem gäbe es in Absprache mit den Angehörigen Entlastungsnachmittage.

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