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Neue Gedichte - wie wir sie lesen, wie wir sie verstehen

Der Literaturkritiker und Schriftsteller Markus Bundi, der Schauspieler Hans-Peter Müller-Drossaart und DRS-2-Literaturredaktor Felix Schneider haben die zahlreichen Herbst-Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Lyrik gesichtet und ihre - wie immer subjektive - Auswahl getroffen.

Sie präsentieren unter anderem Gedichte von Sepp Mall (geboren 1955 in Graun/Südtirol), Felix Philipp Ingold (geboren 1942 in Basel) und Helmut Krausser (geboren 1964, lebt in Berlin) - und zwar vor Publikum in Frauenfeld, anlässlich der dortigen Lyriktage.

Einzelne Beiträge

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Sepp Mall

KLEINES LIEBESLIED

Ich habe dich / auswendig
gelernt
und wenn du weg bist
sage ich dich auf

Besser / du kommst bald
ich mache lauter
Fehler

 

HAPPY BIRTHDAY (I)

Argloses Beginnen
: die Scheibe Brot / die an Schnee
erinnert
und an die Seele der Kindheit
rutscht von der Hand / fällt
in die Tiefe
(die wir Zeit heissen)

Und Tage / die mit-
wirbeln / wie Krumen ins Offene
: Maiandachten / voller Flieder-
farben
Haarbüschel / die ein Friseur
zusammenkehrt alle paar Monate
Und Winter aus klammen Fingern
und dem blauen Geruch / von Tafeln
Heften
: hinab / in den Zeit-
schacht

Und du / schneidest
ein neues Jahr an
wie Brot / wie Seelen-
gebäck

 

IM VERRINNEN DER STUNDEN

Dafür gibt es keinen Trost
: die zerfetzten Flügel
werden nicht mehr ersetzt

Heilen
ist auch so ein Wort
das an diesem Tag
jeder Spricht / das
niemandem nützt

 

LAST EXIT (KLEINE ZUVERSICHT)

In solchen Stunden / fiele
das Abschiednehmen
leicht
: Brauchst nur / dem Pochen
der Wälder zu folgen
dem Zug der Wildenten
(über alle Verkehrs-
regeln hinweg)

Oder dem Rade-
brechen / des Herzens

Wenn der Sommer (dir)
bis in den Mund reicht
und dein Haus / geschultert ist
: schnecken-
gleich

 

UND IRGENDWANN

Und irgendwann die Müdigkeit / die
die Farben verschwimmen lässt
(im Laub der Rebstöcke)

Dein Zupfen am Rocksaum / das Gras
das überall kitzelt
das Rot deiner Zunge

Und dann muss es Stunden geben / Jahre
in denen die Liebe leicht-
fällt

 

LICHT

Manchmal / an dunklen Tagen
seh ich den Baum
unter der Hand des Holzfällers
(der mein Vater war)
wie er seine Krone schüttelt
zögernd / im Verharren

Und dann doch / sich
(ergab und)
fallen liess / berstend
über den Abhang
in einem endlosen Atemzug

Und den Himmel öffnete
in seinem Vergehen

Aus: Sepp Mall, wo ist dein Haus © 2007 Haymon Verlag Innsbruck-Wien

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Helmut Krausser

die einwohner der stadt bochum heissen bochumer
nicht bochumiten nicht bochumonen nicht bochumulaner
nicht bochumisten nicht bochumesi nicht bochumalteken
nicht bochumiens nicht bochumiesen nicht bochumegassen
nicht bochumaner nicht bochumenten nicht bochuminos
nicht bochumiosen nicht bochumanten nicht bochumellen
einfach nur bochumer.

sehen sie mich nicht so entgeistert an. es stimmt.



ich will dich mit gefletschten
zähnen packen und erzwetschgen.
möchte deine unterhosen
pfirsichen und aprikosen,
will orangen dich, melonen,
mandarinen und bewohnen,
datteln dich und kirschen, trauben,
will dir schlaf und atem rauben,
auch zwei ananasse härchen
aus dem feigen stachelbeerchen.

ich banane dich so sehr.
und du zitronst mich immer mehr.



musik, die morgens seltsam trist,
abends anders, sonderbar
heimelig, berückend klang.
wievieles einmal wichtig war,
inzwischen längst vergessen ist.
die kleine, schlichte, irgendwie
halb ausgeführte melodie,
war immer da, mein leben lang.
du summtest sie, vergessen bist
auch du, verzeih, was blieb, sind jene
sonderbaren fünf, sechs töne,
abends anders, morgens trist.



Noch einmal die Musik,
die, als sie neu war, neben mir
wie eine Schlägertruppe lief,
durch grosse Nächte, Takt für Takt.
Sie fing mich auf, hing
Fenster in mein Ungemach.

Sie klingt heut anders, distanzierter,
begleitet mich noch immer, aber
mehr aus Tradition, und ob sie sich
noch einmal für mich schlagen würde,
weiss ich nicht, mein Herz schlägt ja
auch nicht mehr so laut für sie.



mein husten wird besser,
also auch die welt ein bisschen.



es ist viel meer in mir,
zu wenig festland, um
das häuschen, das ich dir,
in trockener zeit,
versprach zu bauen. dumm
gelaufen, tut mir leid.



je älter ich werde, desto mehr
schöne junge frauen gibt es.
sie haben auch weniger an als
früher. heute ist alles besser,
nur nicht ich.



heute sah ich, früh am tag
im park graziöses, filigranes,
wie eines jungen schwanes
allerersten flügelschlag.

leicht betrunken klopfte sich
ein gruftiemädchen an den hals
taumelte und lachte, als
begriffe sie, was wesentlich

im leben ist, was schlendrian.
kniete in der wiese nieder,
eine brust entfiel dem mieder,
sehr graziös und filigran.



wir mieteten ein zimmer,
verschanzten uns für immer,
teilten koks und klopapier.
du hättest es ganz gut bei mir.

ich würde ausgesprochen
sanft sein und gut kochen,
würde dich nicht nur verehren,
auch auf höchstniveau ernähren,

würde mit obszönen
versen dich verwöhnen
würde laute dir entlecken,

die die halbe stadt aufwecken.
gottverfluchte konjunktive.
wie gern ich mit dir schliefe.



Aus: Helmut Krausser, Plasma © 2007 DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln

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