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Skalpell, bitte!

Patienten verbinden mit Operationen oft grosse Hoffnungen, aber auch grosse Ängste. Für Chirurgen und Assistierende sind solche Eingriffe tägliche Routine – und tägliche Herausforderung. Eine Operationsfachfrau erzählt aus ihrem Arbeitsalltag.

Renate Nachts langer Tag im Operationstrakt des Inselspitals beginnt kurz vor 7 Uhr 30. Sie zieht ein frisches blaues Operationshemd und eine Hose an, ihre Füsse stecken in Schlüpfschuhen. Sie sind rot, und gelbe Katzen tummeln sich darauf. Zusammen mit ihrer Brille werden sie später im OP das einzige persönliche Merkmal sein, an dem die Operationsschwester erkennbar ist unter all den Gestalten in Sterilschurz, Schutzhaube und Mundschutz.

Renate Nacht arbeitet in der Neurochirurgie. Da gibt es oft schwierige Operationen, wenn etwa ein Tumor entfernt werden muss. Genau das ist heute der Fall, ein Tumor im Gehirn eines Mädchens. Wenigstens ist die Geschwulst gutartig: «Ist der Tumor entfernt, ist die Patientin gesund», freut sich Renate Nacht.

Die Arbeit beginnt lange vor der OP

Nachdem sie ihre Hände gewaschen und desinfiziert hat, betritt sie den OP durch eine Schiebetür. Die Patientin wird erst etwa in einer Stunde folgen, doch bis dahin gibt es viel zu tun. Bevor Nacht auf zwei Tischen die Instrumente ausbreiten kann, muss sie einen sterilen Schurz und Handschuhe anziehen. Dies geht nur mit Hilfe einer Assistentin. Auch Judith Rode ist Operationsfachfrau. Sie wird während der Operation Renate Nacht helfen, zum Beispiel Nachschub an Instrumenten besorgen. Am nächsten Tag werden die Rollen getauscht.

Aus sterilisierten Boxen räumt Renate Nacht Dutzende von Pinzetten auf den Tisch vor ihr, winzige Messerchen, Absauginstrumente, den Knochenbohrer. Daneben gibt es diverse Klebstoffe, um Blutungen zu stillen, und vieles mehr. «Eine gute Vorbereitung ist das Wichtigste, damit die Operation gut verläuft», sagt Renate Nacht. «Wenn ich schlecht vorbereitet bin, komme ich in Stress.»

Ordnung ist lebenswichtig

Audio
Skalpell bitte! – Leben und Tod
aus HörPunkt vom 02.03.2015. Bild: Keystone
abspielen. Laufzeit 57 Minuten 11 Sekunden.

An jedem der vielen Tupfer, die sie bereit legt, hängt ein Faden. «Dieser Faden muss immer aus dem Operationsfeld hängen, nachdem der Chirurg den Tupfer aufs Hirn gelegt hat», erklärt die OP-Schwester. Eine der vielen Sicherheitsmassnahmen: Hat sich der Tupfer mit Blut vollgesogen, ist er manchmal kaum mehr zu sehen, weil sich auch das weisse Gehirn durch austretendes Blut rot färbt. Die Fäden helfen, alle Tupfer im Auge zu behalten; zusätzlich werden alle Tupfer peinlich genau gezählt.

Um 8 Uhr 15, eine Dreiviertelstunde nachdem Renate Nacht den Operationssaal betreten hat, wird die junge Patientin hereingefahren. Sie ist bereits unter Narkose. Ihr Kopf ist der einzige Teil des Körpers, der nicht unter den grünen Tüchern verschwindet – noch nicht. Eine Metallhalterung fixiert den Kopf.

Reise in die Mitte des Gehirns

Kurz darauf betritt Andreas Raabe den Saal, der Chefarzt der Neurochirurgie. Obwohl Raabe den Kopf der Patientin oben am Schädel öffnen muss, wird kein einziges Haar rasiert – nur ein Scheitel gezogen, und Renate Nacht desinfiziert die Haare mit Jodlösung. Dann lässt sie den Kopf unter zwei Lagen Abdeckungen komplett verschwinden. Nur an der vorgesehenen Bohrstelle bleibt eine kleine Öffnung, wo Nacht die Abdeckung mit Klammern an der Kopfhaut festtackert.

«In dieser Startphase sind wir alle noch etwas lockerer», sagt Renate Nacht. Aber sobald das Operationsmikroskop zum Einsatz kommt, gilt volle Konzentration: «Wenn ein Fehler passieren würde, könnte so viel kaputt gehen im Gehirn.» Das Operationsmikroskop hilft dem Chirurgen, sich im komplexen Gehirn zurecht zu finden. Es ist auf einen grossen Rollwagen montiert, der hinter ihm steht. Ein Teleskop-Arm ragt über den Chirurgen hinweg, so dass ihm die Optik des Mikroskops vor den Augen hängt. Die Schärfeneinstellung und anderes steuert der Operateur über eine Vorrichtung, die er mit dem Mund bedient. So bleiben die Hände stets frei. Aber die Bitten um neue Instrumente sind dafür oft nur schwer zu verstehen. Operationsfachfrau Nacht muss die Geschehnisse stets verfolgen und mitdenken, um gleich zu wissen, was gebraucht wird. «Oft sehe ich auch an der Handstellung des Chirurgen, welches Instrument er will.»

Operation geglückt, Patientin geheilt

Die eigentliche Operation beginnt. Zuerst öffnet Andreas Raabe die Kopfhaut, stillt mit Klammern die Blutung, legt den Schädelknochen frei. Nachdem er eine etwa zwei Zentimeter grosse Öffnung in den Knochen gesägt und die Hirnhaut aufgeschnitten hat, lokalisiert der Chirurg per Ultraschall den Tumor. Er sitzt ziemlich genau in der Mitte des Kopfes. Andreas Raabe muss einen einige Zentimeter langen Tunnel ins Gehirn präparieren, bis er den gutartigen Tumor stückweise entfernen kann. Eine heikle Aufgabe, weil nahe am Tumor wichtige Gehirnregionen sitzen, die nicht verletzt werden dürfen. Sonst müsste die junge Patientin mit Störungen rechnen, zum Beispiel in der Psyche oder der Schmerzwahrnehmung.

Nach etwa zwei Stunden Operationszeit hat Andreas Raabe den Tumor entfernt. Alles ist gut gegangen, keine überraschenden Blutungen sind aufgetreten. Den Rest der Operation übernimmt Oberarzt Philippe Schucht, und Andreas Raabe hat kurz Zeit, zu erklären, warum man bei dem Mädchen das Wagnis einer Operation auf sich genommen hat: Der gutartige Tumor wuchs zwar nur langsam, sass aber so im Gehirn, dass der Gehirndruck ganz plötzlich hätte ansteigen können, mit schlimmen Folgen: «Bei vielen Patienten hat sich plötzlich der Gehirnwasserweg verschlossen und sie fielen ins Koma», sagt Raabe. «Um solche dramatischen Symptome zu vermeiden, müssen wir handeln.»

Man muss sich abgrenzen können, sonst ist man am falschen Ort.
Autor: Renate Nacht Operationsfachfrau

Noch dauert es fast eine Stunde, bis die Hirnhaut wieder vernäht, der Schädelknochen und die Haut verschlossen sind. Aber das ist Routine für Renate Nacht und das Team. Kurz vor Mittag wird die junge Patientin schliesslich aus dem Operationssaal gerollt. Für Renate Nacht heisst es nun aufräumen, die Instrumente einpacken und zur Reinigung schicken. Erst dann kann auch sie in die Mittagspause.

Seit 30 Jahren steht Renate Nacht im OP. Noch immer macht sie die Arbeit gerne, auch, weil sie viele schöne Momente erlebt, helfen kann. Doch nicht immer verläuft es so glatt: «Wenn es plötzlich eine Blutung gibt, dann werden alle hektisch – dann darf man nicht die Nerven verlieren.»

Manchmal weiss Renate Nacht schon vor dem ersten Schnitt, dass ein Patient trotz der Operation wohl sterben wird, weil seine Hirnverletzung zu schwer, seine Krankheit zu aggressiv ist. «Das belastet mich stark, aber man muss sich abgrenzen können», sagt Renate Nacht. «Sonst ist man am falschen Ort.»

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