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«Ich hatte meinen Seelenfrieden verloren»

Menschen mit einer psychischen Krankheit haben es doppelt schwer: Sie leiden unter ihrer Krankheit und der gesellschaftlichen Stigmatisierung. Der «Club» vom 2. Dezember nimmt dieses Thema auf. Ein Gespräch mit einer Betroffenen, die in der Diskussionssendung zu Wort kommt.

Vivianne Vinzens lebt seit Jahren mit der Diagnose einer schweren psychischen Krankheit. Um welche es sich handelt, will sie nicht sagen, weil das Etikett zur Stigmatisierung beiträgt.

SRF: Vivianne Vinzens – wie begann Ihre Leidensgeschichte?

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Vivianne Vinzens, Schwester der Miss Schweiz 2002, wurde mit 16 Jahren von einem psychischen Erdbeben aus dem Gymnasium katapultiert. Die 32-Jährige hat jahrelange Therapien, Klinikaufenthalte und Rückfälle überwunden und kürzlich eine Ausbildung als Restaurationsfachfrau abgeschlossen. Heute lebt sie mit ihrem Partner in Bern.

Vivianne Vinzenz: Ich wuchs in einer liebevollen Familie auf, war beliebt und eine starke Schülerin. Alles begann schleichend. Ich konnte mich plötzlich nicht mehr konzentrieren – verlor die Orientierung, vernachlässigte mich selbst. Am Ende schaffte ich es nicht mehr, am Morgen aufzustehen und versank im Chaos. Ich wusste nicht mehr, ob nun gerade Tag oder Nacht war. Als ich das Gemüse beim Geschirr und das Geschirr im Kühlschrank verstaute, wusste ich: Mit mir stimmt etwas nicht. Ich hatte mich und meinen Seelenfrieden verloren. Es war mir nicht mehr möglich, meinen Alltag zu bewältigen. Einer der Ärzte, die ich kontaktierte, schlug mir eine Institution im Toggenburg vor, dort begann ich, wieder aufzubauen.

Wie reagierte Ihr Umfeld?

Ich war in meiner Familie sicher und behütet, daher war ich lange vor negativen Reaktionen geschützt. Viele Kollegen aus dieser Zeit berichten, ich hätte regelrecht durch sie hindurch geschaut. In der Schule hiess es zu Beginn meiner Krankheit: «Jetzt kann sie nicht mehr denken.» Lange wusste ich selbst nicht, was mir fehlt. Irgendwann erwähnte ein Arzt meine Diagnose. Das war ein Schock! Ich signalisierte aber stets eine starken, positiven Willen zur Genesung. Darum habe ich vielleicht nicht so viele negative Erfahrungen gemacht.

Was war Ihre schmerzlichste Erfahrung?

Als mir die Ärzte mitteilten, ich sei unheilbar krank und könne nie mehr selbstständig leben, war dies einer meiner dunkelsten Momente. Ich wusste, meine Klassenkollegen gehen zur Schule und machen demnächst die Matura. Sie starten in eine verheissungsvolle Zukunft. Ich hingegen war in der Klinik und hatte das Gefühl, vor mir liege ein Abgrund. Erst langsam realisierte ich: Wenn sich meine Situation ändern soll, muss ich mithelfen. Die Situation anzunehmen, war vorerst schrecklich, aber es war zugleich ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Besserung.

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Psychisch Kranke ecken an und werden ausgegrenzt. Unwissen und Vorurteile machen ihnen das Leben zur Hölle. Macht sie die Gesellschaft zu Behinderten? Die Kluft zwischen gesund und krank war Thema im «Club» vom 2. Dezember.

Wie ist es Ihnen gelungen, im Leben wieder Fuss zu fassen?

Bei meinem zweiten Klinikaufenthalt prophezeiten mir die Ärzte, dass sich nun an meinem Gesundheitszustand für Jahre nichts mehr ändern werde. Ich war wie versteinert – die nächsten Jahre sollte ich so verbringen? Verwirrt, traurig und instabil? Mein innerer Schweinehund jaulte laut auf. Tief in mir fand ich die Kraft zu sagen: Nie! Niemals werde ich diesen Zustand auf lange Zeit akzeptieren. Trotz Rückschlägen, Sackgassen und Irrwegen hat am Ende mein starker Wille obsiegt. Sobald ich nach schweren Zeiten wieder Zugriff auf meine innere Stärke hatte, ging ich drauf los.

Was raten Sie anderen Menschen in derselben Situation?

Nehmt Hilfe an und arbeitet an euch selbst! Ich hatte unzählige Rückschläge, musste x-mal von vorne beginnen – aber nur wer dran bleibt, findet seinen Weg aus der Krankheit. Psychisch kranke Menschen haben eine sehr hohe Sensibilität, nehmen viel wahr, und wenn im Arbeitsumfeld und Familie auf diese Sensibilität geachtet wird, ist das Entwicklungspotential riesig!

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