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Zwang zum Hungern «Die Magersucht im Gespräch weder kleinreden, noch dramatisieren»

Ständiges Kalorienzählen, die Waage als beste Freundin, das Ziel Kleidergrösse «Size Zero»: Magersucht ist eine Krankheit, die häufig Mädchen und junge Frauen betrifft. Oft bleibt sie lange verborgen. Wichtig ist, dass sich Eltern frühzeitig selbst Unterstützung holen.

Das Thema Magersucht verliert nicht an Brisanz – ganz im Gegenteil: Soziale Plattformen bieten vor allem jungen Mädchen ganz neue Möglichkeiten, sich auszutauschen und sich gegenseitig in ihrem krankhaften Essverhalten zu bestärken. Sie veranstalten gar Abnehmwettkämpfe, weil sie glauben, nur wer dünn ist, ist begehrt. Hashtags wie #thinspiration geistern seit einiger Zeit durch die sozialen Netzwerke.

Zwei Beispiele von Idealbildern, dieunter dem Hashtag #thinspiration gepostet werden.
Legende: Unter dem Hashtag #thinspiration spornen sich Jugendlich gegenseitig beim Abnehmen an. twitter

Auf Plattformen posten junge Frauen Schnappschüsse ihrer knochigen Hüften und dünnen Ärmchen und wollen sich so gegenseitig zur Gewichtsabnahme motivieren. Der Begriff setzt sich aus den Worten «thin» (Englisch für dünn) und «inspiration» zusammen. Die Bilder sind zum Teil dramatisch.

Eine Studie der Universität Zürich aus dem Jahr 2012 hat ergeben, dass 1,2 Prozent der über 5600 befragten Frauen in der Schweiz zum Zeitpunkt der Befragung mindestens einmal an Magersucht erkrankt waren. Konkrete Zahlen zu Magersüchtigen in der Schweiz liefern allein die Spitäler. Statistisch erfasst werden so nur die schweren Fälle von Anorexie, die stationär behandelt werden.

Eine aktuelle Umfrage von Pro Juventute zeigte: Spitalbehandlungen junger Menschen aufgrund einer Magersucht haben in den letzten drei Jahren um 30 Prozent zugenommen. Während Essstörungen bei Kindern vielfach auf familiäre Probleme zurückzuführen sind, orientieren sich Jugendliche zunehmend an Idealbildern aus sozialen Medien und dem Internet.

SRF: Am Familientisch zu Hause: Was sind erste Alarmzeichen einer Essstörung?

Thomas Brunner

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Legende: srf

Thomas Brunner ist Leiter des Elternberatungs-Teams von Pro Juventute und berät unter anderem Eltern von Magersüchtigen

Thomas Brunner: Wichtig zu wissen ist, dass Betroffene die Anzeichen vor anderen zu verbergen versuchen. Typisch sind Aussagen wie «ich habe schon gegessen», «ich bin nicht hungrig» oder «mir ist schlecht, habe Magenschmerzen», wenn sie mit der Familie zusammen essen sollen. Dem gemeinsamen Essen gehen Betroffene lieber aus dem Weg. Sie isolieren sich sozial zusehends. Ein Anzeichen kann auch die extreme Fixierung auf «gesund oder ungesund» im Zusammenhang mit der Ernährung sein. Essen wird nicht mehr als Genuss, sondern als Belastung erlebt.

Viele Magersüchtige kontrollieren ihr Gewicht mehrmals täglich und rechnen Kalorien zusammen oder wiegen das Essen genau ab. Oft haben sie Listen mit verbotenen Lebensmittel. Sie essen auch lieber alleine, einige haben extreme Rituale beim Essen, stochern herum, zerlegen das Essen in die Einzelteile, von denen dann nur einige wiederum gegessen werden, sie kauen extrem lange auf extrem wenig.

Wie soll man als Mutter, als Vater das Kind darauf ansprechen, wenn man merkt, dass es in Richtung einer Essstörung geht – ohne das Vertrauen des Kindes zu verlieren?

Wenn die Eltern vermuten, dass ihre Tochter oder ihr Sohn eine Magersucht entwickelt, sollten sie das Thema ansprechen und benennen, was ihnen auffällt und Sorgen macht. Gleichzeitig ist wichtig, dass sie es sich nicht zur Aufgabe machen, ihr Kind zu einer Therapie zu zwingen und es immer wieder zum Essen aufzufordern. Das ist meist nicht hilfreich und fördert den Vertrauensverlust. Erst wenn das Kind selbst einsieht, dass es Unterstützung braucht, wird es Hilfe annehmen können. Eltern können zum Beispiel Infomaterial über Magersucht und spezialisierte Beratungsstellen offen herumliegen lassen.

Video
Magersucht - ein tödliches Schönheitsideal
Aus Club vom 26.05.2015.
abspielen. Laufzeit 1 Minute 18 Sekunden.

Magersucht ist vielfach heilbar, wenn die Akzeptanz für die Krankheit da ist. Diese aufzubauen ist sehr schwer für die Betroffenen, da sie ja an einer Körper-Schema-Störung leiden und sich selbst ganz anders sehen als ihr Umfeld. Eine Psychotherapie dauert meist viele Monate.

Ein wichtiger Schritt ist, dass sich Eltern selbst Unterstützung holen. Das kann im Rahmen einer Beratung geschehen, in einer Selbsthilfegruppe für Angehörige oder in einer Therapie. Es ist hilfreich für die Beziehung zum betroffenen Kind, wenn die Eltern sich gut über die Symptomatik informieren und mit diesem Wissen die Tochter oder den Sohn konfrontieren, damit die Eltern nicht in die Verleugnungsstrategien der Betroffenen hineingezogen werden. Dabei gilt: die Erkrankung weder kleinreden, noch dramatisieren.

Was tun als Eltern, wenn sich das Kind nach «ungesunden Vorbildern» (magere Topmodels, hungernde Freundinnen etc.) richtet?

In der Pubertät beginnen Mädchen und Jungs, sich intensiv mit ihrem Körperbild und geltenden Schönheitsidealen auseinander zu setzen, definieren sich über Vergleiche mit den Freundinnen, mit Models aus den Medien. Selbst Heranwachsende, die vor der Pubertät in puncto Körpergefühl stabil waren, können nun in den Zeiten des Umbruchs ins Wanken kommen. Schlank sein ist aktuell ein wichtiger Gradmesser für gutes Aussehen. Jugendliche entwickeln in der Pubertät eine eigene Definition, was schön und toll ist.

Eltern sollten bei sich selber überprüfen, wie sie mit ihrem Körper umgehen. Macht die Mutter zum Beispiel ständig Diät, ist das Gewicht ihr stetes Thema, hat dies einen gewichtigen Einfluss auf das Körperbild ihrer Kinder. Wie zufrieden sind die Eltern mit ihrem Körper? Wird der Körper des Heranwachsenden kritisch begutachtet? Wird wertgeschätzt, was der Jugendliche gut macht, welche Qualitäten er abgesehen vom Erscheinungsbild hat? Ist essen zuhause entspannt? Wird über gesundes Essen gesprochen, wird zusammen gekocht? Welchen Stellenwert hat ein gutes Körpergefühl via Sport und Bewegung?

Hilfreich ist grundsätzlich, mit dem Kind über die manipulierende Schönheitsindustrie, über Photoshop und Manipulation von Menschen in Filmen kritisch zu diskutieren, gemeinsam im Netz Bilder zu suchen, die die Stars «unvorteilhaft» – eben realistisch – abbilden, zu diskutieren, was einen Menschen abgesehen vom perfekten Körper sonst noch attraktiv macht, was ihn sonst noch zum Vorbild macht. Aber auch der Vergleich mit der eigenen Jugend – also wie war das, als die Eltern selber in der Pubertät waren? Welche Ideale galten damals? An was haben sie sich orientiert? – können konstruktive Gespräche zwischen Eltern und ihren heranwachsenden Kindern entstehen lassen.

All diese Fragen rund ums Thema «ich bin gut, so wie ich bin» bilden eine Grundlage, damit Eltern und pubertierende Töchter und Söhne im Gespräch und Kontakt zueinander bleiben, damit sich der Nachwuchs auf dem Weg zur eigenen Persönlichkeit mit dem eigenen Körper, dem Essverhalten und den Massstäben anderer konstruktiv auseinandersetzen kann.

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