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Film & Serien Alles inszenieren? Neue Strategien im Dokumentarfilm

Der Dokumentarfilm ist der Wirklichkeit verpflichtet, er dokumentiert. Was aber, wenn die Wirklichkeit gar nicht in die Bilder passt? Wenn das Wesentliche gar nicht sichtbar ist? Die Duisburger Filmwoche zeigte drei Dokumentarfilme, die Dokumentation und Inszenierung bewusst vermischen – mit Erfolg.

Was ist dokumentarisch und was nicht? Seit bald vierzig Jahren beschäftigt sich die Duisburger Filmwoche mit dieser Frage. An den Filmen «Ich bin hier», «Far'Falastin» und «Sieniawka» entzündete sich die Diskussion wieder einmal ganz konkret: Die Filme bewegen sich bewusst zwischen Dokumentation und Inszenierung.

Ein Schock für unser Dokfilm-Verständnis

«Ich bin hier» von Eleni Ampelakiotou ist ein bildstarker Dokumentarfilm über einen jungen Delinquenten namens Hamdy in Berlin. Klassisch dokumentarisch ist an «Ich bin hier» bestenfalls der Off-Kommentar von Hamdy. Seine Stimme erzählt von seinen Träumen, seiner kleinen Tochter, die er kaum sieht, seiner Unlust, sich institutionell erziehen zu lassen. Aber: Der Mann, den wir auf der Leinwand sehen, ist nicht Hamdy. Hamdy ist im Gefängnis. Filmemacherin Ampelakiotou hat mit einem so genannten Stand-In gedreht, einer Repräsentation. Und das auf Vorschlag und Wunsch von Hamdy selbst.

Filmhinweise:

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  • «Ich bin hier» von Eleni Ampelakiotou, DE 2013
  • «Far’ Falastin» von Max Sänger, DE 2013
  • «Sieniawka» von Marcin Malaszczak, DE/PL 2013

Erst ist es ein kleiner Schock für unser Verständnis von Dokumentation, das so beiläufig zu erfahren. Dann relativiert sich diese Empfindung: Denn eigentlich ist es ja egal, wer einen Unbekannten repräsentiert – so lange er dies «richtig» macht. Und dafür sorgt Filmemacherin Eleni Ampelakiotous. Sie zeigt, wie man via Inszenierung unter Umständen dokumentarischer arbeiten kann als mit der News-Kamera. Das funktioniert, und weckt gleichzeitig die Neugier: Was sehe ich da? Wer ist das? Und wo ist er genau?

Zwischen Dokumentation und Inszenierung

Eine ganz andere Strategie hat der junge Filmemacher Max Sänger. Er hat lange Zeit unter palästinensischen Ziegenhirten in Israels «Area C» gelebt. Im besetzten Siedlungsland, wo der Streit zwischen Palästinensern und der israelischen Staatsmacht allgegenwärtig ist. Zum Einstieg seines Films «Far'Falastin» zeigt Max Sänger, wie der Hirte die Ziegen aus den Gehegen lässt und ins Weidegebiet treibt.

Alltag im kaum existenten Dorf Susya in Max Sängers «Far'Falastin».
Legende: Alltag im kaum existenten Dorf Susya in Max Sängers «Far'Falastin». zvg

Dafür filmt der Regisseur mit seiner Kamera acht Minuten lang zwischen den Tieren. Das ist nur möglich, weil er und die Ziegen diesen Vorgang in und auswendig kennen. Denn nur so lassen sich die Ziegen von seiner Präsenz nicht stören, und nur so kann er schwenken, ohne zu stolpern. Damit sind diese acht Minuten gleichzeitig dokumentarisch und inszeniert.

News-Clips suggerieren Wirklichkeit, Dokfilme inszenieren sie

Max Sängers dokumentarische Strategie besteht ausserdem darin, unsere Neugier zu wecken. Er zeigt Dinge und Situationen, die wir zum Teil erkennen, zum Teil aber auch nicht. Und er gibt keine Antworten auf die Fragen, die wir uns dabei möglicherweise stellen. Damit entgeht er der Gefahr, Dinge zu behaupten.

Dieser Kniff wird im aktuellen Dokumentarfilm immer wieder angewandt: Die Zuschauer werden in ein Geschehen geführt, und dort sich selbst überlassen. Das ist die Umkehrung der alltäglichen Fernseh-Illusion. Es ist der Verzicht darauf, absolute Wirklichkeit oder gar Wahrheit zu suggerieren.

In der Seelenlandschaft eines Geisteskranken

Am konsequentesten demonstrierte das in Duisburg der aus Polen stammende Marcin Malaszczak. In «Sieniawka» zeigt er den Alltag in einer psychiatrischen Anstalt in einer polnischen Kleinstadt. Die Anstalt, die wie ein Gutshof aussieht, war einst ein Nazi-Arbeitslager. Sein Film gewann in Duisburg den ARTE-Dokumentarfilmpreis, dotiert mit 6.000 Euro.

Der zentrale Teil von «Sieniawka» besteht aus ruhigen Aufnahmen der Innenräume und der Umgebung der Klinik. Man sieht die Patienten beim Essen, beim Rauchen, bei ihren persönlichen Ritualen. Die meisten sind alte Männer. Umrahmt ist dieser dokumentarische Teil des Films durch eine spielfilmartige Inszenierung: Zwei Männer deponieren einen Menschen, in rosa Tuch gewickelt, vor einer Tür und verschwinden. Ein weiterer Mann mit Motorradhelm stolpert durch waldiges Gelände, ein anderer erwacht in Zwangsjacke an dem Ausfluss einer Abwasserleitung. Offenbar ist das alles Malaszczaks Versuch, in die subjektive Seelenlandschaft eines Geisteskranken vorzudringen.

Was wir sehen, wird uns gezeigt

Auch im dokumentarischen Teil stossen wir, wie auch bei den Filmen von Sänger, auf ungeschnittene Kamerafahrten und Schwenks. Zum Beispiel sieht der Zuschauer ein dutzend rauchende Patienten im Aufenthaltsraum. Sie alle ignorieren die Kamera wie Profischauspieler. Es ist davon auszugehen, dass der Filmemacher die Patienten nur so filmen konnte, weil er den Ablauf ihres Rauchrituals nach dem Essen kannte.

Regisseur Marcin Malaszczak
Legende: Regisseur Marcin Malaszczak vermischt in «Sieniawka» Dokumentation und spielfilmartige Inszenierung. Mengamuk Films

Diese Choreographie der täglichen Wiederholung verstärkte der polnische Filmemacher noch am Schneidetisch, indem er Bilder rückwärts laufen lässt. Zunächst fällt das nicht auf: Da kauert ein Mann im Flur auf dem Boden. Ein anderer kommt durch eine Tür und läuft rückwärts. – Ein Irrer eben, denkt man. Erst als ein dritter Mann ebenfalls rückwärtsläuft und dem Mann auf dem Boden ausweicht ohne hinzusehen, wird klar, dass der Film an dieser Stelle verkehrt herum abläuft.

Mit dieser verblüffenden Montage erinnert der Film daran, dass auch ein vermeintlich objektiver Dokumentarfilmer uns immer einen ausgewählten Ausschnitt liefert. Was wir sehen, wird uns gezeigt.

«Sieniawka» ist letztlich auch darum dokumentarisch, weil wir an einen Ort geführt werden, der real existiert. Und weil uns ein Blick ermöglicht wird, der sich als subjektiv zu erkennen gibt. Nicht der Film stellt die Fragen, sondern wir. Und nicht der Film gibt die Antworten: Wir versuchen als Zuschauer selbst sie im Film zu finden.

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