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Gesellschaft & Religion Auch in der Schweiz wird das Internet zensiert

Natürlich: In Ländern wie China oder Saudi-Arabien wird das Internet zensiert – aber doch nicht in freien, demokratischen Ländern wie der Schweiz! Stimmt nicht, sagen Christoph Wachter und Mathias Jud. Das Künstlerduo legt mit intelligenter Software-Kunst die digitalen Machtverhältnisse bloss.

Zensur bringt man für gewöhnlich mit totalitären Regimen in Verbindung. Wer etwa in China das Stichwort «Tiananmen» in eine Suchmaschine eingibt, erhält dafür keine Treffer. Wortfilter zensieren alle Hinweise auf den Platz, auf dem 1989 der Volksaufstand blutig niedergeschlagen wurde. Chinesische Internetnutzer erhalten so ein anderes mediales Abbild der Welt als wir im Westen.

Doch in China weiss man, dass Internetnutzer ausgehorcht, unliebsame Begriffe gefiltert und viele Seiten zensiert werden. Dass in die Struktur des Internets mannigfaltig eingegriffen wird, gehört dort zur alltäglichen Erfahrung.

Es gibt kein freies Internet

Über die Künstler

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Das Internet als Forschungsgegenstand, Software als Ausdrucksmittel: Das Schweizer Künstlerduo Christoph Wachter und Mathias Jud, wohnhaft in Berlin, macht Kunst im digitalen Zeitalter. Museen wie Aktivisten zeigen und nutzen ihre Werke. «Picidae», «Qaul.net», «Blacklist» und «Zone interdite» gehören zu ihren bekanntesten Werken.

«Auch wir werden immer in spezifischer Weise geroutet, gerankt und gefiltert. Auch in Ländern, wo wir denken, wir sind ganz frei. Es gibt kein freies Internet», sagt Christoph Wachter.

Zusammen mit Mathias Jud stellt er mit kluger Software-Kunst bloss, wie unser Bild der Welt durch das Internet bestimmt, und wie es verzerrt wird. Ihr Kunstwerk «Picidae» von 2007 hilft, die Internetzensur zu umgehen. Das wird nicht überall geschätzt, und von Regierungen als Bedrohung empfunden. Im Oktober 2013 wurde dem Schweizer Künstlerduo deshalb die Einreise nach China verweigert.

Aber nicht nur in China, sondern weltweit wird die Freiheit im Internet immer mehr eingeschränkt. Dies belegt der vor wenigen Wochen erschienene Bericht «Freedom on the Net 2013» der Organisation Freedom House. 35 der darin untersuchten 60 Länder haben im Vergleich zum Vorjahr ihre Online-Überwachung ausgebaut. Am freisten sind Island und Estland, am unfreisten der Iran, Kuba und Syrien.

Zensur zensiert sich selbst

Die Schwierigkeit: Sich der Zensur gewahr zu werden, ist gar nicht so einfach. «Die Zensur zensiert sich als erstes immer selbst», sagt Mathias Jud und meint damit: Es gibt keine veröffentlichten Listen mit gesperrten Websiten, Inhalten oder Begriffen.

Mit «Blacklist» haben die beiden Künstler jedoch eine Maschine geschaffen, die genau dies tut: Sie vergleicht, welche Inhalte wo zugänglich sind und wo nicht. Was die Zeichenmaschine dabei an unterdrückten Bildern findet, gibt sie in Phantomzeichnungen wieder, statt sie direkt zu zeigen.

«Die Arbeit ist ein Seismograph, der zeigt, was ausgeblendet wurde», erklärt Christoph Wachter. Und er fördert Erstaunliches zutage. Als die Maschine in einer Ausstellung in Deutschland zum Einsatz kam, zeichnete sie plötzlich Bilder von mageren Models. Sie stammten aus Magersucht-Foren, die von den deutschen Behörden abgeschaltet wurden.

Zensur auch in der Schweiz

Ein Seismograph zeichnet die Zensur auf.
Legende: Das Blacklist-Projekt: Ein Seismograph zeichnet die zensierten Inhalte auf. wachter-jud.net

Auch in der Schweiz werden Internetseiten unterbunden. 500 bis 1500 sind es, je nach Internetanbieter, wie Wachter & Jud in aufwendiger Recherche herausgefunden haben. Eine gesetzliche Grundlage dafür gebe es nicht, lediglich Empfehlungen der Behörden. Dass deren Umsetzung weder kontrolliert noch bei Unterlassung geahndet wird, finden Wachter & Jud «bei einem so wichtigen Thema seltsam».

Viele dieser zensierten Seiten enthalten verstörendes Material: Gewalt, Selbstverstümmelung, Neonazismus, Kinderpornografie. Doch nicht um die Frage, was zensiert gehört und was nicht, geht es den Künstlern, sondern um Grundsätzlicheres: «Eine Gesellschaft macht aus, dass sie ihre Werte verhandeln und kommunizieren kann». Dazu müssten wir auch sehen, was lieber ausgeblendet wird.

Was die Künstler dabei leitet, ist ein urkünstlerisches Motiv: «Wie können wir uns in dieser Welt, die immer mehr digital wird, ausdrücken, wie nehmen wir sie wahr».

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