Was «defensives Bauen» bedeutet, zeigt ein Stadtrundgang im Kleinbasel mit Heiko Schmitz. Er ist 59, führt fürs Strassenmagazin «Surprise» soziale Stadtrundgänge durch und war dreieinhalb Jahre obdachlos.
Die Bänke
«Den Leuten wird das Leben sehr schwer gemacht», sagt Schmitz. Er deutet auf eine Bank: «Die Sitzfläche ist nach hinten geneigt und die untere Rückenlehne fehlt. Wenn ich mich da drauflege und einschlafe, falle ich hinten raus. Leider ist das kein Produktionsfehler. Das ist gewollt.»
Auch andere Bankmodelle lassen auf Absicht schliessen: Hindernisse auf der Sitzfläche, gewölbte Oberflächen und kurvige Formen verhindern das Hinlegen. Nur kurz soll man verweilen. Bisweilen werden Bänke schlicht entfernt oder fest am Boden verankert. Etwa auf der Claramatte, einem Familienpark, in dem es früher viel Drogenhandel und Prostitution gab.
Seit Frühling sind die Tischgarnituren fixiert, «und zwar so, dass alle weit voneinander weg stehen», erklärt Heiko Schmitz. «Das finde ich sehr bedenklich.» Auch Menschen, die grössere Familienfeste feierten, könnten sich nun schlechter versammeln.
Ein grosses Arsenal
Vor wenigen Jahren erst wurde der Park umgestaltet. Die Planer hätten aber eigentlich «fast alles» richtig gemacht, sagt Schmitz. Was fehlt, sind Toiletten. Entweder man bleibt nicht lange – oder: «Das kleine Biotop dient als Pissoir.»
Auch auf dem Mauervorsprung vor einer Bank an der belebten Greifengasse soll sich niemand niederlassen. Darauf ist ein dreieckiger Körper angebracht. Statt dass man sich setzen könnte, kann man hier nun das Handy laden.
Während seiner Obdachlosigkeit fand Heiko Schmitz einen geschützten Schlafplatz. Anderen fällt dies heute sehr schwer, denn Nischen, in die sich Menschen zurückziehen könnten, werden ausgeleuchtet, vergittert oder mit Stacheldraht verschlossen; mit Steinen, Pflanzenkübeln und Drahtseilen versperrt.
In einem Park beim Wettsteinplatz schaltet sich nachts um zwei eine Sprinkleranlage ein, um den Rasen – und die Habe der hier Schlafenden – zu bewässern.
Die Liste von Verdrängungsvorrichtungen endet hier nicht: Schwarzlicht soll es Junkies verunmöglichen, ihre Venen zu treffen – sinnlos, wie Heiko Schmitz sagt. Ein erfahrener Drogenkranker komme auch im Schwarzlicht zum Ziel.
Wie will ein Mensch, der nie zur Ruhe kommt, einen klaren Gedanken fassen, um sein Leben wieder in den Griff zu kriegen?
Hochfrequenztöne und klassische Musik vergraulen an Bahnhöfen Jugendliche. Kies auf Plätzen und Noppen an Kanten halten Skaterinnen und Skater von Bänken fern. In einem Quartierpark verschwindet ein Fussballtor, damit Kinder keinen Lärm mehr machen. Und so weiter.
Unmenschliche Absichten?
Der Architekt Stefan Kurath leitet das Institut Urban Landscape der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Er sagt: «In meiner Praxis in Architektur und in Planungsgemeinschaften mit Landschaftsarchitekten ist noch nie die Diskussion aufgekommen, wie man gewisse Personengruppen von der Aneignung des Raumes abhalten kann.»
Er versteht, dass sich Betroffene durch solche Massnahmen abgewertet fühlen, gibt aber auch zu bedenken, dass manche Eingriffe einem Ungleichgewicht in der Nutzung dieses Raumes begegnen. Wenn man hingegen zu perfiden Massnahmen greift – Glasscherben, Stacheldraht, Nagelbretter –, sei das «ein Ausdruck von gesellschaftlicher Überforderung und hochproblematisch.»
Wen betreffen diese Massnahmen?
Laut der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz sind in der Schweiz etwa 2200 Personen obdachlos, die Dunkelziffer ist hoch. Besonders für sie bedeuten die Plätze, Parks und Tramhaltestellen Lebensraum.
«Man kommt nie zur Ruhe», sagt Heiko Schmitz, «der einzige Ruhepunkt ist vielleicht der Schlafplatz, wenn man einen ungestörten hat. Wie will ein Mensch, der nie zur Ruhe kommt, einen klaren Gedanken fassen, um sein Leben wieder in den Griff zu kriegen? Das kann nicht funktionieren». Sich in der eigenen Stadt unwillkommen zu fühlen, sei verheerend.
Darüber hinaus betrifft «defensive Architektur» alle, die sich draussen aufhalten: Kinder und Jugendliche, Alt und Jung, alle, die sich mal hinsetzen wollen oder müssen, Touristinnen und Touristen, Menschen, die ausserhalb der Mietwohnung im Freien ein Buch lesen oder einfach so entspannen wollen.
«Es betrifft die gesamte Bevölkerung», sagt Heiko Schmitz, «merken es die meisten nicht, weil das so raffiniert gemacht ist.»
Der öffentliche Raum
Heiko Schmitz äussert sich klar: «Der öffentliche Raum gehört allen, ohne Ausnahme: allen! Wie man auf die Idee kommen kann, einzelne Bevölkerungsgruppen davon ausschliessen zu wollen, geht mir nicht in den Kopf.»
Wenn Private Massnahmen ergreifen, damit Kundschaft ungehindert ihren Laden oder ihr Restaurant aufsuchen kann, hat Schmitz Verständnis. Aber nicht, wenn der Staat «defensiv» handelt.
Vergessen wir nicht: Auch rechtliche Vorschriften bezwecken Ähnliches. In Bern etwa untersagt das «Campingverbot» das Nächtigen auf öffentlichem Grund – auch im Wohnmobil. In Basel existiert der Tatbestand der «Übernutzung»: Wer sich in einem Park häuslich einrichtet, den kann die Polizei büssen und wegweisen. An Bahnhöfen setzt die SBB ihr Hausrecht mit Hausordnungen und Bahnpolizei durch.
«Die SBB hat einen etwas verkrampften Umgang mit Aneignung», sagt Stefan Kurath, und er fügt an: «Alle haben unabhängig von ihren Steuerbeträgen das Anrecht darauf, sich im öffentlichen Raum zu entfalten.» Das sei wichtig, um Menschen gesellschaftlich zu integrieren. «Es gehört zur staatlichen Aufgabe, öffentlichen Raum für alle zugänglich zu machen und dafür zu sorgen, dass die Vielfalt der Angebote allen zugutekommt.»
Verdrängung führt nur dazu, dass sich die Menschen anderswo aufhalten. Wenn man das nicht möchte, muss man Massnahmen finden, damit die Leute nicht auf der Strasse landen.
Beim Staat gebe es bezüglich Planung, Gestaltung und Nutzung eine hohe Professionalität – und die sozialstaatlichen Einrichtungen. Private aber, die «defensiv» bauten, seien «vielfach überfordert». Sie sähen «nur die Möglichkeit, durch das Verunmöglichen von Aneignungen das Problem auf die für sie einfachste Art und Weise zu lösen».
Es gebe aber auch andere Grundeigentümer. Als Beispiel führt Stefan Kurath den «Lagerplatz» in Winterthur an. Er gehört einer Stiftung für nachhaltige Vorsorge. Die Personen, die auf dem Areal arbeiten, hätten sich zusammengetan und miteinander ihre Regeln definiert. «So sind sie zu einem wunderbaren, vielfältigen, gut genutzten Raum gekommen, der öffentlich ist, aber in Privatbesitz.»
Die Privatisierung des öffentlichen Raums
Im «defensiven Bauen» wird auch die Privatisierung des öffentlichen Raums deutlich, nicht nur in Form der «Shopping-Center-Bahnhöfe». Auch Strassencafés, Essensstände und Werbeaktionen beanspruchen ihn. «Interessanterweise sind ja kommerzielle Nutzungen von öffentlichem Grund toleriert, solange man dafür zahlt. Dann passt es. Bei Obdachlosen ist diese Nutzung plötzlich nicht mehr tolerierbar», sagt Architekt Kurath.
Viele lassen keine Räume für Ereignisse offen, von denen man nicht weiss, wann, wie, wo und ob sie eintreffen werden.
Hier werden die politische Dimension von Raumnutzungen und die Interessenskonflikte besonders deutlich. Denn Eigentümerinnen und Eigentümer von Liegenschaften und Mieterinnen und Mieter wollen Sauberkeit und Ordnung. Geschäfte brauchen ungehinderten Publikumsverkehr. Umgekehrt wollen sich Menschen irgendwo aufhalten.
Sie hätten Verständnis für private Eigentümerinnen und Eigentümer, sagen Heiko Schmitz und Stefan Kurath übereinstimmend. «Wenn sie aber wirklich perfide auffahren, dann nicht mehr», sagt Kurath. «Ich habe auch Verständnis für Personen, die sich über andere aufregen. Dass sie die Polizei rufen, verstehe ich aus ihrer Perspektive. Aber ist das wirklich jedes Mal notwendig? Kommt man nicht besser ins Gespräch und findet andere Wege?» Solche Diskussionen müssen Gesellschaft und Politik führen.
Lösungen?
«Verdrängung führt nur dazu, dass sich die Menschen anderswo aufhalten. Wenn man das nicht möchte, muss man Massnahmen finden, damit die Leute nicht auf der Strasse landen. Zum Beispiel ‹Housing First›-Projekte», sagt Heiko Schmitz.
«Housing First» bedeutet, dass die Gemeinde zuerst Betroffenen bedingungslos Wohnraum zur Verfügung stellt. Diese Strategie, um Obdachlosigkeit zu verringern, setzt Finnland seit 2008 um, und sie verbreitet sich auch in anderen Ländern. Günstige Wohnungen und Freiräume – das sei zentral, erklärt Schmitz.
Überdies müsse man von der «Überdeterminierung» wegkommen, der Übergestaltung von öffentlichen Räumen, etwa von Bahnhöfen und Einkaufsstrassen, wünscht sich Architekt Stefan Kurath. Es liege auch in der DNA der Gestaltenden, möglichst jedes Detail festzulegen. «Viele lassen keine Räume für Ereignisse offen, von denen man nicht weiss, wann, wie, wo und ob sie eintreffen werden.»
Gestaltung könne Aneignungen verhindern, sie aber auch «zulassen durch vielfältig gestaltete Räume.» Durch Freiräume, Nischen und Angebote für ein breites Spektrum von Nutzerinnen und Nutzern. «Da könnte man der Gesellschaft schon ein bisschen mehr zumuten und Räume offenlassen, damit Stadtleben möglich ist», sagt Kurath.
In den Sinn kommt einem beim Thema «defensives Bauen» vielleicht auch die Präambel der Bundesverfassung. Da steht, die Eidgenossenschaft gebe sich ihre Verfassung, «gewiss, [… ] dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen».