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Gesellschaft & Religion «Die Leute wissen nicht, was es heisst, im Heim zu sein»

«Carlos» und sein Fall haben 2013 für Aufregung gesorgt. Besonders die Kosten. Die Jugendlichen würden mit Samthandschuhen angefasst, sagen Kritiker. Heiminsassen hingegen schildern eine andere Realität. Dominic Zinniker sass mit Carlos ein: «Die Leute wissen nicht, was es heisst, im Heim zu sein.»

Dominic Zinniker. Aus welchen Gründen kamen Sie ins Heim?

Dominic Zinniker: Ich hatte eine schwere Kindheit, wurde zu Hause geschlagen. Die Gewalt, die ich erfuhr, begann ich als 12-Jähriger weiterzugeben. Ich war sehr aggressiv zu meinen Kollegen, nahm Drogen, war in Schlägereien verwickelt und stahl. Mit 15 musste ich in ein Heim – die Polizei und die Jugendarbeiter drängten mich dazu.

Zu Dominic Zinniker

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Dominic Zinniker ist 20 Jahre alt und hat sechs Jahre im Heim verbracht. Er hat eine Lehre als Metallbauer gemacht und mit der besten Abschlussnote im Kanton abgeschlossen. Er ist Protagonist im DOK «Zwischen Recht und Gerechtigkeit» und Gesprächsgast im «Club: Jugendstrafrecht – zu lasch und zu teuer?».

Wurden Sie «verhätschelt»? Es gibt ja einige Stimmen aus dem Volk, die sagen, dass es die Heimbewohner sehr schön – oder gar zu schön – hätten.

Hier fängt das Problem an. Die Leute, die schlecht über uns reden, haben keine Ahnung. Sie wissen nicht, was es bedeutet, in einem Heim zu sein. Ich musste von früh bis spät hart arbeiten, war umgeben von Kollegen mit kriminellem Hintergrund und weit weg von meinen Freunden. Ich musste viel leisten, um Essen zu bekommen und von den Pädagogen akzeptiert zu werden. Das ist die Realität der sogenannten «Erlebnispädagogik».

Aber Lehrlinge arbeiten doch auch?

Ja, aber sie werden nicht dauernd mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Bei uns gab es kein Entrinnen. Wir hatten keine Abwechslung, durften nicht ins Kino oder einkaufen gehen. Im Heim hört man von der üblen Vergangenheit der anderen und trägt seine mit sich herum. Das muss man erst mal aushalten. Man kämpft für ein besseres Leben. Wer sich in unserem Heim nicht an die Regeln hielt, musste mit harter Körperarbeit in der Freizeit dafür büssen, zum Beispiel zwei Wochen Holzspalten am Feierabend oder am Wochenende.

Wie wurden Sie zu dem Menschen, der Sie heute sind?

Nach fünf Monaten im Heim hatte ich zum ersten Mal Urlaub. Ich war wieder mit meinen alten Freunden unterwegs, kiffte mit ihnen. Mir wurde bewusst, dass sie schlecht dran waren und dass das kein Leben für mich war. Es machte Klick. Ich wollte nur noch auf Abstand gehen und ein besseres Leben führen.

Was haben Sie vom Fall «Carlos» mitbekommen?

«Carlos» kannte ich vom Heim. Er ist ein guter Typ. Es überrascht mich nicht, dass er wieder aggressiv wurde – bei der Medienhetze. Er tut mir leid. Ich hatte auch Angst, dass mir dasselbe passieren könnte. Wenn Leute mit mir zu tun haben, sind sie immer wieder überrascht, dass ich im Heim war. Am Anfang bestehen oft Vorurteile.

Kritiker sagen auch, dass das Jugendstrafrecht nicht nur zu lasch, sondern auch zu teuer sei.

Ja, wir kosten etwas. Aber sehen Sie, die Gesellschaft schiebt alle ab: die Behinderten, die psychisch Kranken und die aggressiven Jugendlichen. Man sperrt uns weg und ist dann plötzlich überrascht, dass das auch etwas kostet. Wer in einem guten Elternhaus aufgewachsen ist, kann gut reden. Das Heimleben ist hart.

Haben Sie es geschafft?

Ich glaube schon. Ich konnte trotz meiner Vergangenheit die Rekrutenschule machen, habe meinen Berufsabschluss mit Bestnoten abgeschlossen. Ich will nicht mehr ins alte Leben zurückkehren. Ich wohne zusammen mit meinem Vater – bin aber selbstständig.

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