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Gesellschaft & Religion Die Schweizer Krankenschwester, die das Grauen von Dachau sah

Kurz vor Kriegsende, Ende April 1945, bekam die junge Kinderkrankenschwester Marga Dürst einen Anruf vom IKRK aus Genf: Ob Sie bereit wäre, ins Kriegsgebiet im Deutschen Reich zu fahren. Sie sagte spontan zu. Ein Entscheid, der sie heute als 97-jährige Frau immer noch bewegt.

Marga Dürst diente während des Zweiten Weltkriegs im Frauenhilfsdienst der Schweizer Armee und leistete dort 282 Diensttage als Rotkreuzfahrerin. Als die Anfrage vom IKRK kam, willigte sie sofort ein. Allerdings wusste sie nicht, was auf sie zukommen würde. Und sie hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen: Sie lebte damals als ledige Frau noch bei ihren Eltern. Ihre Mutter hätte einen solchen Einsatz im Kriegsgebiet bestimmt nicht erlaubt, sagt Marga Dürst heute. Doch beim Anruf aus Genf, war sie – der Zufall wollte es – gerade allein zu Hause.

Nacht im Bombenkrater

So kam es, dass Marga Dürst wenige Tage später mit einem Arzt und weiteren Krankenschwestern von Kreuzlingen über Ravensburg, Ulm und München nach Dachau fuhr. Sie waren in einem offenen Jeep unterwegs, der die Kolonne von zehn Lastwagen mit dem Emblem des Roten Kreuzes anführte. Sie sollten den Überlebenden im Konzentrationslager Dachau, die in jenen Tagen von US-amerikanischen Soldaten befreit wurden, Lebensmittel bringen.

Die Helferinnen und Helfer aus der Schweiz waren auf diesen Einsatz schlecht vorbereitet und mangelhaft ausgerüstet. So erinnert sich Marga Dürst noch heute an eine kalte Regennacht, die sie unter einem Schirm in einem Bombenkrater im zerstörten München verbrachte.

Im KZ Spiegeleier gebraten

In Dachau traf sie auf KZ-Überlebende, auf US-amerikanische Soldaten und SS-Leute, die sich in ihren Büros verschanzten. Die junge Schweizerin wurde von abgemagerten Menschen, die kaum mehr gehen konnten, durch das Lager begleitet. Sie bemerkte, dass diese in Abfalleimern nach Essbarem suchten, während sich die US-Soldaten in fröhlicher Runde Spiegeleier brieten, ohne den Hungernden etwas abzugeben.

Marga Dürst beobachtete, dass die Soldaten sich einen Spass daraus machten, die Eier bereits in der Luft aufzuschlagen, um sie dann in hohem Bogen in die Pfanne zu werfen. Die junge Schweizerin, die mit Bergschuhen angereist war, fragte sich, welche Rolle die amerikanischen Krankenschwestern spielen, die in rosa Overalls und eleganten Schuhen die Soldaten in Dachau flankierten.

Bilder, die sich einbrennen

In jenen Tagen kurz vor dem offiziellen Kriegsende am 8. Mai 1945 sah die junge Krankenschwester im Konzentrationslager in Dachau Dinge, die sie nie mehr vergessen wird: Leichen, die auf einem Haufen liegen; einen Verbrennungsofen, auf dessen schwarzer Schiefertafel mit weisser Kreide und in feinsäuberlicher Schnürlischrift steht, bei welcher Temperatur der Ofen das letzte Mal in Betrieb war.

Marga Dürst fand nach ihrer Rückkehr kaum Gehör, konnte über das Erlebte mit niemanden richtig sprechen. Darum entschied sie bald darauf, ein weiteres Mal mit dem IKRK loszufahren, diesmal nach Mauthausen, zum grössten Konzentrationslager der Nationalsozialisten auf österreichischem Boden. Wenn sie schon nicht darüber reden konnte, wollte sie wenigstens helfen.

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