Sprache und Solidarität. Beides wird für den jungen Habermas zur existentiellen Erfahrung: Mit einer Gaumenspalte kommt er zur Welt, kann sich nur schwer verständlich machen.
Er wird ausgelacht und ausgegrenzt. Diese Erfahrung prägt ihn bis heute. Er entwickelt ein Denken, das um die Sprache kreist. In ihr, so Habermas, sei alles angelegt: Vernunft, Demokratie, Menschenrechte, Solidarität.
Habermas mischt sich ein
Habermas ist ein Theoretiker, der sich in öffentliche Debatten einmischt. Bereits mit 24 Jahren äussert sich der Philosophiestudent in einem aufsehenerregenden Zeitungsartikel über den damaligen Philosophen-Papst Martin Heidegger. Der junge Habermas kritisiert diesen für dessen Nähe zur NS-Diktatur.
In den 60-er Jahren wird Habermas als junger Professor zum Vordenker der linken Studentenbewegung. Deren Radikalismus kritisiert er 1967 aber als «Linksfaschismus». Später wird aus dem Staatsfeind «fast ein Staatsphilosoph», wie Joschka Fischer ihn nannte.
Ob Kriegseinsätze, Bioethik oder Europapolitik, was immer auf der politischen Weltbühne geschieht: Habermas nimmt Stellung, kommentiert, kritisiert. Mit diesem Engagement lebt er vor, was seine Theorie fordert: Eine lebendige, öffentliche Debatte.
Alle müssen mitreden dürfen
Gerechtigkeit lässt sich nur im Gespräch finden, im vernünftigen und «herrschaftsfreien Diskurs» aller Betroffenen. Davon ist der 90-Jährige überzeugt.
Jeder sollte seine Argumente einbringen können. Aus dieser simplen Forderung ergeben sich für Habermas weitreichende politische Konsequenzen, wie ein Wahl- und Stimmrecht für Ausländer oder eine demokratische Legitimationspflicht globaler Wirtschaftskonzerne.
Moralische Normen und politische Gesetze müssen konsensfähig und demokratisch legitimiert sein. Nur dann können sie nach Habermas Geltung beanspruchen. Dieses Leitmotiv durchzieht seine Hauptwerke, die «Theorie des kommunikativen Handelns» (1981) ebenso wie «Faktizität und Geltung» (1992).
Er erhebt den Zeigefinger
Damit ein freier und fairer Austausch der Argumente aber gelingen kann, braucht es öffentliche Medien. Auf Kanälen und Plattformen soll sich eine möglichst breite Zivilgesellschaft informieren, austauschen und organisieren können.
Internet und soziale Medien machen das einfacher und schwieriger zugleich. Stichworte sind Fake News, Shitstorm, Filterblase. Habermas wies bereits 1961 in seiner Habilitationsschrift «Strukturwandel der Öffentlichkeit» auf die Gefahr der Kommerzialisierung öffentlicher Medien hin.
Weshalb es Europa braucht
Habermas’ Denken zielt letztlich auf eine weltumspannende Öffentlichkeit, eine «Weltbürgergemeinschaft». Der Weg zu dieser föderalen Weltrepublik führt ihm zufolge über ein politisch geeintes, demokratisches Europa.
Dafür kämpft er seit Jahren vehement. Denn globale Probleme, wie der Klimawandel oder die Migration, liessen sich mit nationaler Politik nicht lösen. Habermas vertraut auf den «zwanglosen Zwang des besseren Arguments».
Derzeit aber weht ihm ein heftiger Wind von nationalistischer Seite entgegen. Die Frage ist: Lässt dieser sich noch drehen? Die Klimastreiks zumindest zeigen: Die Zivilgesellschaft ist noch am Leben.