Was ist der Anlass? Vor zehn Jahren holte Bärfuss im Essay «Die Schweiz ist des Wahnsinns» in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» zum Rundumschlag gegen die Schweizer Politik und Medien aus: Die Schweiz stehe wirtschaftlich und politisch am Abgrund. Das Echo in Feuilleton und Politik war gross. Nun, zehn Jahre später, hat «Die Zeit» den Schweizer Autor eingeladen, erneut einen kritischen Blick auf den Zustand der Schweiz zu werfen. Der Titel des neuen Essays: «Die Schweiz als Kolonie».
Was schreibt Lukas Bärfuss jetzt? Die Schweiz sei «zum Vasallenstaat der USA geworden». Wirtschaftlich sei die Schweiz auf Gedeih und Verderb von den USA abhängig: Die Wall Street bestimme, wie es der Schweizer Wirtschaft gehe. Auf Druck der USA habe man ohne nennenswerte Gegenwehr das Bankgeheimnis aufgegeben und die Credit Suisse der UBS einverleibt. Aber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch ordne sich die Schweiz den USA unter, schreibt Bärfuss: Die Verträge zur Beschaffung neuer Kampfjets aus den USA – ohne fixen Kaufpreis – seien eine Neuauflage der «Protection Treaties», der Knebelverträge, mit denen das britische Imperium einst seine Vasallen drangsalierte.
Welchen weiteren Fall nennt er? Die devote Haltung gegenüber der US-Regierung, die sich dem Faschismus und Imperialismus verschrieben habe, so Bärfuss, zeige sich auch in der Reaktion von Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter auf die umstrittene Rede des US-Vizepräsidenten JD Vance an der Münchner Sicherheitskonferenz. Keller-Sutter hatte sie als «liberal» und «sehr schweizerisch» bezeichnet. Und diese typisch koloniale Unterwürfigkeit bringe nicht einmal etwas, so Bärfuss weiter, denn man habe ja trotzdem 39 Prozent Zölle aufgebrummt bekommen. Statt aufzubegehren, würde die Schweizer Politik weiter vor den USA kuschen.
Kritisiert Bärfuss nur die bürgerliche Mehrheit? Nein, auch die Linke nimmt er ins Visier: Die Gewerkschaften würden im Einklang mit den Rechten gegen die EU kämpfen und die SP habe mit ihrem Referendum gegen Frontex die Schengen-Dublin-Verträge leichtfertig aufs Spiel gesetzt.
Ist die Kritik gerechtfertigt? Bärfuss trifft durchaus einen wunden Punkt, wenn er die Anbiederung an die und die Abhängigkeit von den USA anprangert. Die ist allerdings nichts Neues. Schon nach dem Zweiten Weltkrieg zwangen die USA zusammen mit Frankreich und dem Vereinigten Königreich die Schweiz im Washingtoner Abkommen, 250 Millionen Franken für den Wiederaufbau Europas zu zahlen – weil sie lukrative Geschäfte mit Nazideutschland gemacht hatte.
Warum verwendet Bärfuss übertriebene Begriffe wie «Vasallenstaat der USA» und «Kolonie»? Übertreiben und polemisieren gehört zu einem politischen Essay. So versucht Lukas Bärfuss, eine öffentliche Debatte anzustossen, wie ihm das vor zehn Jahren gelungen ist. Er reiht sich in eine Tradition von Schriftstellern wie Max Frisch oder Friedrich Dürrenmatt ein, die sich immer wieder mit pointierten Essays zur Schweizer Politik äusserten – und bewusst in Kauf nahmen, dass sie damit auch anecken.
Ist eine Debatte wie vor zehn Jahren beim aktuellen Text auch zu erwarten? Wohl nicht im gleichen Ausmass. Man kennt Bärfuss’ Haltung mittlerweile gut, und seine Darstellung «EU – gut, USA – schlecht» ist so vereinfachend zugespitzt, dass sie die Angesprochenen wohl nicht so heftig treffen wird wie damals.