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Gesellschaft & Religion Sexueller Missbrauch: Das Schicksal der Opfer wird oft ignoriert

«Bei sexuellem Missbrauch sprechen alle über die Täter, niemand über die Opfer», sagt Psychotherapeutin Regula Schwager von der Castagna-Beratungsstelle für sexuell ausgebeutete Kinder. Im Interview erklärt sie, wieso unsere Gesellschaft sich so auf die Täter fixiert – und die Opfer verdrängt.

SRF: Frau Schwager, Sie kritisieren, dass beim Thema sexueller Missbrauch der Täter im Mittelpunkt steht und nicht das Opfer. Wie meinen Sie das?

Regula Schwager: Nehmen wir die Medien als Beispiel. Bei der Berichterstattung über Missbrauchsfälle liegt der Fokus nach einer ersten betroffenen Reaktion meistens auf dem Täter: Warum hat er das gemacht? Was ist seine Geschichte? Was passiert jetzt mit ihm? Vom Opfer und den verheerenden Folgen, die diese Taten verursachen, redet häufig niemand.

Zur Person

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Psychotherapeutin Regula Schwager ist Co-Leiterin von Castagna Zürich, der Beratungsstelle für sexuell ausgebeutete Kinder, weibliche Jugendliche und in der Kindheit ausgebeutete Frauen. Castagna berät und schult Fachpersonen und ist Ansprechperson für betroffene Jugendliche und Erwachsene und deren Angehörige.

Aber müssen die Opfer nicht auch geschützt werden, damit sie in der Öffentlichkeit nicht stigmatisiert werden?

Natürlich müssen die Opfer geschützt werden. Niemand kann ein Interesse daran haben, die Identität eines Kindes, das sexuell missbraucht wurde, ins Rampenlicht zu stellen. Aber auch wenn die Betroffenen nicht selber reden können, weil sie das erneut traumatisieren würde, braucht es trotzdem klare Berichterstattung darüber, wie gross das Leid der Opfer ist: Fachleute können für sie reden. Meist wird der Aspekt, was die Berichterstattung in den Medien bei den Opfern auslöst, wie es ihnen geht, was die sexuelle Gewalt langfristig anrichtet, so gut wie ignoriert.

Wie erklären Sie sich das?

Wir gehen davon aus, dass es ein Verdrängungsmechanismus ist. Bei sexuellem Missbrauch geht es in der Regel auch um Machtausübung durch den Täter oder die Täterin. Opfer hingegen empfinden intensive Ohnmachtsgefühle. Wenn man sich also mit einem Opfer und dessen Situation auseinander setzt, dann spürt man diese Ohnmachtsgefühle, man ist mit dieser riesigen Hilflosigkeit konfrontiert – und das halten viele schlicht nicht aus. So komisch das klingen mag: Es ist für eine Gesellschaft deshalb einfacher, sich mit dem Täter auseinanderzusetzen. Oft hat diese Art von Verdrängung auch eine andere verheerende Konsequenz: Anstatt den Missbrauch anzuerkennen, dreht man die Fakten um und gibt dem Opfer die Verantwortung für das Geschehene.

Haben Sie ein Beispiel?

Hohe Dunkelziffer

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Laut einer WHO-Studie aus dem Jahr 2002 werden 5 bis 10  Prozent aller Männer und 20 Prozent aller Frauen in ihrer Kindheit sexuell missbraucht. «Diese Zahlen treffen laut unseren Einschätzungen auch auf die Schweiz zu, sie sind jedoch nur die Spitze des Eisberges. Die Dunkelziffer ist riesig», so Regula Schwager.

Bei vielen medienträchtigen Fällen kippte die Berichterstattung nach einer ersten Betroffenheitsreaktion. Plötzlich hiess es, dass einige der sexuellen Handlungen ja gar nicht unter Zwang geschehen seien. Das ist ein typisches Phänomen: Man ist so überfordert angesichts dieser unvorstellbaren Realität, dass man anfängt, die Verantwortung dafür auch beim Opfer zu suchen. Dann heisst es schnell: ‹Selbst schuld, sie hätte ja auch nicht mit denen mitgehen müssen› oder ‹Warum kleidete sie sich auch so aufreizend› oder ‹Warum hat er denn nicht nein gesagt?›

Sind Sie auch in ihrem beruflichen Alltag mit diesem Verdrängungsmechanismus konfrontiert?

Ja, wir erleben sehr häufig, dass Angehörige der missbrauchten Kinder sagen: ‹Das kann ich nicht glauben›. Man will diese furchtbaren Taten nicht wahr haben. Dazu kommt, dass bei über 90 Prozent aller Fälle die Täter aus dem engeren sozialen Umfeld der Kinder stammen. Es sind Vertrauenspersonen, es ist oft der Lieblingsonkel, der fähigste Lehrer oder die sympathischste Betreuerin. Ich höre häufig den Satz: ‹Für den oder die hätte ich meine Hand ins Feuer gelegt›.

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