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Kulturgeschichte der Schweiz Staudämme: Speicher für Nostalgie und Schmerz

Staudämme bedeuten auch Widerstände, Verluste, Niederlagen und Leid. Eine Webseite ermöglicht einen Blick zurück, dokumentiert den Bau erster Staudämme in der Schweiz und erzählt von den Schicksalen jener, die deshalb umgesiedelt wurden.

Strom musste her, für die Industrie, die Bahn und die Haushalte. Deshalb errichteten ab den 1910er-Jahren Elektrizitätswerke in der Schweiz zahlreiche Staudämme. Zu Schaden kamen Landschaft und Anwohner.

Verschwundene-taeler.ch dokumentiert den Bau dieser Staudämme – und insbesondere auch die Umsiedelungen, die dafür notwendig waren.

Ein Bild des Marmorera-Stausee am Julierpass.
Legende: Der Bau des Marmorera-Stausees am Julierpass begann 1950. Keystone

Sie schlichen davon wie Verdammte

Das Unterland brauchte Strom – nicht immer ging es dabei sauber zu und her. Etwa in Marmorera in Graubünden hiess es 1997 in einem Fernsehbeitrag:

«Am 17. Oktober 1948 stimmen im Hotel Julier 24 der 26 anwesenden Männer für die Konzession. Heute steht fest, dass alle Stimmen gekauft waren.»

1950 begann der Bau des Staudamms. Die Einwohner mussten umziehen. Zeitzeugen erinnern sich: «Als sie weggingen, war das, als schlichen Verdammte dem Friedhof entlang. Sie verabschiedeten sich von niemanden. Man wusste nicht, was los war.»

Und eine andere Frau meint: «Abschiednehmen tut weh, wir sagten nichts, wir konnten nicht sprechen.»

Tausende Umgesiedelte

Gesammelt sind solche Dokumente auf der Webseite verschwundene-taeler.ch. Initiiert hat diese die Genfer Kulturanthropologin Pierrine Saini.

Bei etwa zehn Staudämmen in der Schweiz mussten Menschen dem Wasser weichen. Auf einige Tausend schätzt Saini die Zahl der Umgesiedelten. Sie wurden mehr oder weniger hoch entschädigt und mussten sich anderswo eine neue Existenz aufbauen.

Einwohner von Marmorera bekamen etwa Bauernhöfe im weit entfernten Thurgau angeboten, Anwohner des Sihlsees teilweise solche am Ufer des neuen Stausees.

Starke Sehnsüchte

Pierrine Saini hat für ihre Dissertation und die Staudamm-Webseite das Filmarchiv der «Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde» genutzt. Und sie hat mit Menschen gesprochen, die wegziehen mussten. Da kamen starke Gefühle hoch.

Eine Sehnsucht nach früher, nach der Jugend und Zerrissenheit, das fühlten viele Umgesiedelte. Pierrine Saini weist aber auch daraufhin, dass der Staudammbau den abgelegenen Regionen auch Arbeitsplätze und Entschädigungszahlungen gebracht und sie verkehrstechnisch erschlossen habe.

Volks-Nein zählt

Manchmal lehnte die Bevölkerung den Bau von Staudämmen aber ab. Beispielsweise im Rheinwald, wo die Gemeinden Splügen, Medels und Nufenen geflutet werden sollten. In der Wochenschau vom 31. März 1944 wird der Respekt vor diesem Volks-Nein als demokratisches Bekenntnis geadelt:

«Zu einer Zeit da Millionen von Menschen aus ihrer Heimat herausgerissen und scharenweise deportiert werden, respektiert die Regierung eines Schweizer Kantons den Willen von 430 bodenständigen Bürgern.»

Nicht wie in China und in der Türkei

Der Stromverbrauch hat seinen Preis. Doch immerhin konnten in der Schweiz die Betroffenen meist mitbestimmen. Nicht wie in heutigen, weit grösseren Staudamm-Projekten in China und in der Türkei.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell, 28.11.2016, 6:50 Uhr.

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