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Gesellschaft & Religion Zeugnisse von Verdingkindern in 500 Jahren Schweizer Literatur

Verdingkinder gibt es seit Jahrhunderten, wie ein Streifzug durch die Schweizer Literatur zeigt. Das erste Zeugnis stammt aus dem 16. Jahrhundert. Und die Verdingkinder-Geschichten reissen bis ins 20. Jahrhundert nicht ab.

Er hatte eine Kindheit, die man niemandem wünschen möchte. Kaum sieben Jahre alt, wurde der 1499 geborene Thomas Platter einer verwandten Familie übergeben, die ihn zum Ziegenhüten schickte. Achtzig Tiere hatte der Bub zu betreuen. Wenn seine Ziegen ausrissen, hiess das oft, stundenlang durch manns- bzw. kinderhohen Schnee zu stapfen. Mehr als einmal blieb er im Schnee stecken, konnte sich nur mit äusserster Not retten, wobei er allerdings die Schuhe verlor. Barfuss und vor Kälte zitternd kehrte er nach Hause zurück – was ihm natürlich Schläge einbrachte.

Vom Verdingkind zum Schuldirektor

Der Junge war völlig überfordert von seiner Aufgabe. Mal verirrte er sich im Hochgebirge, musste ganze Nächte ungeschützt und nur mit einem Hemd bekleidet im Freien übernachten; mal rannten die Ziegen den kleinen Hirten über den Haufen und die ganze Herde trampelte über ihn hinweg. Bei anderer Gelegenheit fiel er in einen Kessel mit kochender Milch und verbrühte sich so, dass er für sein Leben lang Narben davon trug.

Auf verschlungenen Wegen, angetrieben von einem ungeheuren Wissensdurst brachte es Thomas Platter schliesslich zum Schüler Huldrych Zwinglis und noch später zum angesehenen Bürger und Schuldirektor in Basel. Mit siebzig Jahren verfasste er seine «Lebensbeschreibung». Dieses älteste schriftliche Zeugnis eines Verdingkindes erschien erst mehr als 300 Jahre nach seinem Tod, im Jahr 1840.

Der Wortgewaltige

Drei Jahre zuvor hatte der Emmentaler Pfarrer Albert Bitzius die fiktive Autobiographie eines Verdingkindes veröffentlicht. Er gab dem Buben den Namen Miasl (Jeremias), was fortan sein Pseudonym als Schriftsteller werden sollte. Im Roman mit dem Titel «Der Bauernspiegel» schildert Jeremias Gotthelf eindrücklich die Grundbedingungen, die das Schicksal vieler Verdingkinder bestimmten: (oft) Tod eines Elternteils, grosse Armut, Hartherzigkeit und «Unverstand».

Auch wenn im Roman der Eifer des Prediger gelegentlich das Feuer des Erzählers zu ersticken droht, ist die Geschichte von Miasl doch die gewaltige Talentprobe eines kommenden grossen Schriftstellers. Mit wenigen Sätzen konnte Gotthelf eine Stimmung schaffen, die einem durch Mark und Bein geht: «Es war fast wie an einem Markttag. Man ging herum, betrachtete die Kinder von oben bis unten, die weinend oder verblüfft dastanden, betrachtete ihre Bündelchen und öffnete sie wohl auch und betastete die Kleidchen Stück für Stück; fragte nach, pries an, gerade wie an einem Markt. Ein Vater, der vier Kinder brachte, rief dieselben aus und jeden Vorübergehenden herzu, um ihm eines oder das andere aufzudringen; er machte es ärger als die Weckenfrau an ihrem Korbe mit ihrer Ware.»

Heim, Verdingkind, Erziehungsanstalt

Mehr als 130 Jahre nach Gotthelf schlug wieder eine Verdingkinder-Geschichte hohe Wellen: Arthur Honeggers «Die Fertigmacher». Der Journalist der Zeitung «Blick» hatte 1974 im Alter von 50 Jahren das Buch seines Lebens geschrieben, einen autobiographisch gefärbten Roman. Honegger wurde für Jahre das Aushängeschild für Verdingkinder.

Wie entschädigen?

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Der Bauernverband stelle kein Geld für die Entschädigung von bedürftigen ehemaligen Verdingkindern bereit, meldete er. Bundesrätin Simonetta Sommaruga hat jüngst Geld versprochen. Dem ehemaligen Verdingbub und heutigen Unternehmer Guido Fluri aus Zug ist das zu wenig: Er will eine Volksinitiative starten, die eine gerechte Entschädigung sichert.

Aus eigener Erfahrung schildert der Autor die lieblose Welt der Erzieher, Beamten, Vormundschaftsbehörden und Zöglinge. Er erzählt von der Arbeit um der Arbeit willen, von den Abgründen der Gewalttätigkeit, der Aggression und den Ängsten – vom ganzen Elend dieser Kindheit und Jugend. Arthur Honegger selbst war als Bub ins Heim, später als Verdingkind zu einem Bauern und schliesslich in eine Arbeitserziehungsanstalt gekommen. Die Authentizität, die Honeggers Buch eigen ist, hat dazu geführt, dass das Buch mehr als zehn Auflagen erlebte.

Sich allmählich seiner selbst bewusst werden

Dass ein öffentlicher Platz nach einem ehemaligen Verdingkind benannt wird, kommt nicht alle Tage vor. Die Stadt Bern hat Rosalia Wenger diese Ehre erwiesen. Wenger ist bereits 70-jährig, als 1976 ihre viel beachtete Autobiographie erscheint: «Rosalia G. Ein Leben». Darin schildert sie ihr schwieriges Leben als uneheliches Kind. Zwar findet sie zunächst Unterschlupf bei ihren Grosseltern. Mit elf Jahren aber wird sie dann doch zu Fuhrhaltersleuten verdingt.

Ihr ganzes folgendes Leben leidet sie unter dieser Kindheit, schlägt sich in verschiedenen ungelernten Berufen durch und heiratet schliesslich einen Mann, der auch nicht auf Rosen gebettet ist. Sie zeugen zusammen zwei Kinder, doch sie fühlt sich zeitlebens von ihm völlig unverstanden. Nach dem frühen Tod des Mannes wird sich Rosalia Wenger allmählich ihrer selbst bewusst. Sie bildet sich autodidaktisch weiter und schreibt schliesslich ihre eigene Geschichte auf. Eines von vielen Zeugnissen aus fünf Jahrhunderten – fünf Jahrhunderte, in denen für Tausende von Kindern das Verdingtwerden zum Schicksal wurde.

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