In der Schweiz werden gemäss Schätzungen pro 100‘000 Einwohner rund 280 unfreiwillig in eine psychiatrische Klinik eingewiesen – jedes Jahr. Rechnet man diese geschätzte Zahl hoch auf 7 Millionen Einwohner, kommt man auf rund 20‘000 Menschen, die jährlich von einer Zwangseinweisung betroffen sind.
Europäischer Spitzenreiter in Zwangseinweisungen
Fachleute korrigieren diese Zahl auf realistisch 15‘000 Menschen – was immer noch enorm hoch ist im europäischen Vergleich: Nur Finnland erreicht eine ähnliche Quote, während England mit 40 Einweisungen pro 100‘000 Einwohnern und Belgien gar mit 4 pro 100’000 weit darunter liegen. Der Grund dafür: In diesen Ländern ist das psychiatrische Angebot nicht ausschliesslich auf Kliniken konzentriert, sondern es gibt daneben Ambulatorien, die viel niederschwelliger und dezentraler zusätzlich auf Gemeindeebene funktionieren und so einiges schon präventiv abfangen können.
Waadt, Aargau, Zug und Zürich führen Liste an
Als Vorbereitung und Grundlage für das neue Kinder- und Familienschutzrecht hatte das Bundesamt für Gesundheit Jürg Gassmann mit einer Studie zum Thema beauftragt. Er sollte herauszufinden, was es braucht für einen sicheren Rechtsschutz bei Zwangseinweisungen. Der Jurist und ehemalige Leiter der Stiftung Pro Mente Sana förderte in der Studie Erstaunliches zu Tage: Die vier Kantone Waadt, Aargau, Zug und Zürich zum Beispiel liefern prozentual massiv mehr Menschen zwangsweise ein als andere Kantone. Im Kanton Aargau und im Kanton Waadt sind 37% aller in einer psychiatrischen Klinik hospitalisierten Menschen zwangseingewiesen – im Kanton Zürich 26%. Dem stehen am unteren Ende die beiden Kantone Genf und Freiburg mit 4% respektive 7% gegenüber. Gigantische Unterschiede, die zum Teil jedoch damit zu tun haben, dass in der Schweiz die Daten sehr unterschiedlich erhoben werden. So erfasst das Bundesamt für Statistik zwar die Anzahl Menschen, die in einer psychiatrischen Klinik hospitalisiert werden. Ob diese jedoch als freiwillig oder unfreiwillig hospitalisiert erfasst werden, hängt davon ab, ob die Klinik oder die Betroffenen dies dementsprechend melden.
Kliniken handeln in eigenem Interesse
Und so steuern die Kliniken je nach Interessen die Angaben. Während einzelne Kantone die Quote von psychischen Zwangseinweisungen möglichst niedrig halten, drücken andere sie hoch. Die einen versprechen sich eine bessere Reputation durch möglichst wenig unfreiwillige Eintritte, die andern zählen auf volle Betten-Auslastung durch möglichst viele Eintritte. Einzelne Kliniken schränken die Aufnahme von freiwilligen Patienten deshalb generell oder zu bestimmten Zeiten ein – insbesondere an Wochenenden.
Hausärzte geben Verantwortung an Klinik ab
Kommt dazu, dass je nach Kanton – ähnlich wie in Europa auch – die Organisation des ärztlichen Angebots ausschlaggebend ist. So finden in Kantonen mit notfallpsychiatrischem Dienst – wie beispielsweise Baselstadt – markant weniger Zwangseinweisungen statt als in Kantonen, die sich keinen solchen Dienst leisten: Weil Notfallpsychiater als Spezialisten besser beurteilen können, ob eine Krise eine Zwangseinweisung nötig macht oder ob der Betroffene auch ambulant versorgt werden kann. In Kantonen ohne Notfallpsychiater werden normale Hausärzte gerufen. Sie verfügen öfters eine Einweisung als ihre fachärztlichen Kollegen, weil sie damit auf Nummer sicher gehen und die Verantwortung an die Klinik delegieren können.
Ohne saubere Datenerhebung wenig Rechtsschut z
Jürg Gassmann sieht dringenden Bedarf an einheitlichen und sauber erhobenen Daten. Er plädiert für eine dezentrale, aber professionelle psychiatrische Versorgung. So könnten die Zahlen besser kontrolliert und allenfalls auch gesenkt werden – wie das möglich ist, zeigt er an konkreten Beispielen von «good practice», wie sie in der Schweiz schon funktionieren. Ob der Bund und alle Kantone seine Empfehlungen umsetzen, wird die Zukunft zeigen.