Als Josef Bollag vor gut 35 Jahren Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Baden (IKGB) wurde, zählte der Verein 26 Mitglieder. Bollag, der knapp drei Jahre eine Talmud-Schule besucht hatte, leitete damals Gottesdienste und las aus der Thora vor. Er führte die Gemeinde praktisch als Ein-Mann-Betrieb. Heute hat die IKGB einen eigenen Rabbiner und zählt 160 Mitglieder.
SRF Kultur: Nach Jahrhunderten, in denen sich die jüdischen Bürger gezwungen sahen ausserhalb der Stadtmauern zu leben, konnten sie sich Mitte des 19. Jahrhunderts endlich in Baden niederlassen.
Josef Bollag: Richtig. Und kurz darauf, im Jahr 1859, haben sich sieben jüdische Bürger dazu entschieden, einen Verein zu gründen, die IKGB. Damals befand sich die Synagoge nicht wie heute in der Parkstrasse, sondern in der Weiten Gasse – im sogenannten Bernerhaus.
Der Besitzer dieses Bernerhauses, ein Protestant aus Bern, soll – so erzählt es die Gründungslegende – den Juden ganz bewusst erlaubt haben, im ersten Stock seines Hauses ein Gebetslokal zu eröffnen, um den katholischen Pfarrer aus Baden etwas zu ärgern.
Eine Synagoge als Ärgernis – die Integration war für die jüdischen Bürger nicht immer einfach.
Die Juden hatten lange kein Recht, Eigentum zu erwerben, oder einen Beruf zu erlernen. Daher sahen sie sich gezwungen, sich mit Handel und Finanzen zu beschäftigen – meine Familie beispielsweise war im Viehhandel tätig, in allen zwölf Generationen vor mir. Das sind keine Tätigkeiten, die einen besonders beliebt machen.
Heute hingegen kann man die Juden in Baden als vollständig integriert bezeichnen. Das heisst aber nicht, dass der Antisemitismus verschwunden ist – im Gegenteil. In den letzten fünf Jahren hat er stark zugenommen. Dementsprechend trage ich keine Kippa, die jüdische Kopfbedeckung, wenn ich durch die Stadt laufe.
War das früher anders?
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Der Umgang mit der Situation war anders. Während meiner Jugend herrschte ein gewisser Grundantisemitismus, der dazu geführt hat, dass sich die Gemeinde abgekapselt hat. Heute gibt es zwar auch die Tendenz, stärker zusammenzurücken, trotzdem ist die Gemeinde viel offener geworden.
Wir erhalten seit zehn, fünfzehn Jahren auch immer mal wieder Anfragen, ob Aussenstehende bei einem Gottesdienst in der Synagoge dabei sein dürfen. Das ist durchaus möglich.
Wie geht diese Öffnung und die Anpassung an den Wandel der Zeit mit der orthodoxen Einstellung der Gemeinde einher?
Sie lässt sich gut damit vereinbaren – wenn man sich dazu bereit erklärt, sich anzupassen. Bereits im Talmud steht, man solle das Gesetz jenen Landes beachten, in dem man lebt.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel dazu. Stellen Sie sich vor, ein junger Mann leistet in der Schweiz Militärdienst und müsste dafür am Samstag Auto fahren, obwohl er es aufgrund religiöser Gesetze nicht dürfte. Was hat nun Vorrang, das religiöse Gesetz oder jenes des Landes, in dem er den Dienst leistet?
Sagen wir es so: Er kann Auto fahren. Es geht nicht darum, Unmögliches zu erzwingen. Wir halten uns an den Grundsatz, mit den jüdischen Gesetzen zu leben und nicht an ihnen zugrunde zu gehen. Ausserdem haben wir mehrere Gemeindemitglieder aus verschiedenen Ländern, die alle ein eigenes Verständnis der Religion mitbringen und Gemeindemitglieder, die nicht-jüdische Partner heiraten – da ist eine gewisse Offenheit die Voraussetzung.
Nicht-jüdische Partner und ein absehbarer Generationenwechsel – wie sehen Sie die Zukunft der IKGB?
Sehr positiv, denn wir versuchen nicht nur, die jüngere Generation stärker einzubinden, die IKGB ist zudem die einzig vollständig funktionale Gemeinde im Kanton Aargau, und es gibt immer wieder Leute, die dazukommen. Ein bis zwei Mal im Jahr kommt es sogar vor, dass aus anfänglichem Interesse eines Aussenstehenden derartige Begeisterung wird, dass es zum Übertritt zum Judentum kommt. Das ist besonders schön.