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Literatur Helvetismen stinken nach Stall – oder riechen nach Heimat?

Immer mehr Schweizer Literaten verweben in ihren Texten die hochdeutsche Sprache mit Mundart-Ausdrücken. Wie etwa der Bündner Schriftsteller Arno Camenisch oder die Zürcherin Silvia Tschui. Doch «Swissness» in Romanen ist nicht neu – und seit jeher nicht jedermanns Sache.

Die zweisprachige Landschaft des Rätoromanischen und Bündnerdeutschen sei das poetische Fundament, auf dem ein «ebenso originäres wie originelles Sprachgebäude emporgewachsen» sei. So die Jury des Hölderlin-Förderpreises der Stadt Bad Homburg, als sie 2013 dem Schweizer Autor Arno Camenisch den Preis für seine «Bündner Trilogie» überreichte.

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Ein Filmporträt über den Schriftsteller Arno Camenisch: Am Sonntag, den 15. März 2015, um 11:55 Uhr in der «Sternstunde Kunst» auf SRF 1.

Camenisch verwebt seine hochdeutschen Texte stark und charakteristisch mit Ausdrücken aus der Bündner Mundart und aus dem Rätoromanischen. Mit seinen im Regionalen verankerten Geschichten und der lokal geprägten Sprache hat er auch in Deutschland grossen Erfolg. Und nicht nur er. In jüngster Zeit erschienen gleich mehrere literarische Werke, die mit ähnlichen formalen Stilmitteln Beachtung fanden – etwa Silvia Tschui mit «Jakobs Ross», Michael Fehr mit «Simeliberg» oder Roland Reichen mit «Sundergrund».

Das Problem des literarischen Stallgeruchs

Nun ist Dialekt in der Literatur beileibe keine Novität. Dass Gotthelf der erste Mundartautor war, ist zwar eine ebenso unausrottbare wie falsche Meinung, aber unbestritten klebt an seiner Sprache der Stallmist der Emmentaler Bauernwelt.

‹Häb nit Kummer, Gerichtsäß!› sagte eine alte Frau. ‹Öppe alleine wird man das Meitschi nicht lassen.›
Autor: «Das Erdbeer Mareili» (1850) Jeremias Gotthelf

Trotzdem sind Dialektwörter in der Schweizer Literatur, abgesehen von der Dialektliteratur natürlich, alles andere als selbstverständlich. Denn wer Literatur für den ganzen deutschen Sprachraum schreiben will, steht vor der Frage, ob man den Stallgeruch riechen darf. Die Deutschschweiz sei Teil der deutschen Kultur und dürfe sich mit ihrer Dialektverliebtheit nicht davon absondern. So das öffentlich immer wieder gepredigte Mantra des Schweizer Germanisten Peter von Matt.

Dürrenmatts Ärger mit deutschen Schauspielern

Schon die Gewissensfrage, ob man in seiner Literatur einen Helvetismus benutzt oder nicht, kann einen Deutschschweizer Autor in Nöte bringen. Legendär ist der Dialog zwischen Kaiser Romulus und Kammerdiener Pyramus in Friedrich Dürrenmatts Theaterstück «Romulus der Grosse»: Romulus «Das Morgenessen.» Pyramus «Das Frühstück.» Romulus «Das Morgenessen. Was in meinem Hause klassisches Latein ist, bestimme ich.» Diese Szene soll Dürrenmatt verärgert über Nacht so umgeschrieben haben, nachdem sich ein Schauspieler bei den Proben geweigert habe, «Morgenessen» zu sagen. Andere Autoren weichen dieser Frage aus, indem sie Helvetismen und Dialektausdrücke konsequent vermeiden. Hansjörg Schneiders Kommissär Hunkeler «parkt» sein Auto und geht auf den «Bahnsteig» (statt «parkieren» und «Perron»).

Eine neue Mischsprache zwischen Dialekt und Hochdeutsch

Seit einigen Jahren entscheiden sich jüngere Autoren zunehmend für eine starke schweizerische Sprachfarbe in ihrer Literatur. Tim Krohn eröffnete dieses Feld 1998 mit einem Paukenschlag: Der Roman «Quatemberkinder» setzte radikal auf Dialektausdrücke und Dialektstrukturen und schuf so eine in dieser Form neue Mischsprache. An ihr scheiden sich die Geister zwar noch heute, aber der Erfolg gibt Krohn Recht.

Als sie eben marschieren wollten, kam das Mariili die Stäge durab polderet und weiblete an ihnen vorbei und rief, es müsse zu seinem Gämsi, das plange gewiss nach ihm
Autor: «Vrenelis Gärtli» (2007) Tim Krohn

In seiner Tradition stehen heute Tschui, Fehr, Reichen, Camenisch und andere. Das Stilmittel «Dialekt» wurde schon von Shakespeare erfolgreich eingesetzt: Es erlaubt charakteristische Figurenzeichnungen und es verleiht der Mündlichkeit in der Literatur erhöhte Authentizität. Ausserdem funktioniert dialektale Sprache heute, in einem vom globalen Literaturschaffen überschwemmten Büchermarkt, als Unterscheidungsmerkmal.

Bruch mit der Idylle des «bluemete Trögli»

Hinter den neuen «Swissness»-Romanen steckt aber mehr als bloss die Absicht, die formalen Gestaltungsmöglichkeiten zu erweitern und den Absatz zu steigern. Dialekt wird in der Literatur noch immer eher mit Heimatverbundenheit und Idylle verbunden, verdichtet im vielzitierten Bild der «bluemete Trögli».

In den Romanen der genannten jüngeren Schweizer Autoren ist dagegen der Idyllenbruch die stärkste Konstante. Roland Reichen beschreibt in «Sundergrund» eine sozial und mental völlig marode Berner Oberländer Familie, wo der Sohn elend in den Drogen zugrunde geht. Silvia Tschuis Hauptfigur in «Jakobs Ross» ist eine Magd, deren sängerische Begabung im gewalttätigen, männerdominierten Bauernalltag des 19. Jahrhunderts erstickt wird. Demgegenüber ist die Männerwelt in Arno Camenischs «Bündner Trilogie» zwar harmlos. Aber er beschreibt in schlichten Worten die aussterbende Kultur der Bergtäler: Wie sich die Dörfer entvölkern, wie die Beizen und Bahnhöfe schliessen und die Übriggebliebenen in ihrer Melancholie verharren. Dass all diese Nöte mit Wörtern und Satzstrukturen aus dem Dialekt erzählt werden, vertieft die Dramatik merklich. Und zwar nicht nur für Dialektsprechende.

Hat sie aufgemacht, fragt der Franz. Jo kasch tenka, sagt der Fred, bei dem Penalti, den ich beieinander hatte.
Autor: «Fred und Franz» (2013) Arno Camenisch

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