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Literatur Kazuo Ishiguro stösst Fantasy-Puristen vor den Kopf

Der britisch-japanische Autor und «Booker Prize»-Träger Kazuo Ishiguro ist immer gut für Überraschungen: Er spielt gerne mit Genres – in seinem neusten Buch mit Elementen der Fantasy. Seither gehen in Fantasy-Kreisen die Wogen hoch. Wieso, erklärt der Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn.

Philipp Theisohn, Kazuo Ishiguro nutzt in seinem neusten Buch «Der begrabene Riese» die Mittel der Fantasy-Literatur. Das nimmt man ihm übel. Wieso?

Zur Person

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Legende: zvg

Philipp Theisohn ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich und Leiter des Forschungsprojekts Conditio extraterrestris. Zu seinen Spezialgebieten zählen Science-Fiction und Futurologie. Die Ausstellung Mars. Literatur im All im Literaturmuseum Strauhof hat sein Forschungsteam mitkuratiert.

Fantasy-Leser verbinden einzelne fantastische Elemente in der Regel mit einem geschlossenen Kosmos. Die «handelsübliche» Fantasy-Literatur verfügt über bestimmte Hierarchien unter den Geschöpfen, wiederkehrende Handlungsmuster, magische Systeme und auch eine ganz bestimmte Ethik. Einzelne Elemente aus diesem Kosmos herauszulösen und sie in ein realistisches Erzählen zu integrieren, wie Kazuo Ishiguro das macht, das ist da nicht vorgesehen, es kommt einer Regelverletzung gleich. Das ist der Grund für die Kontroverse.

Man muss dazu aber sagen, dass diese Diskussion sehr typisch für den englischsprachigen Raum ist, da dort – anders als im deutschsprachigen Raum – zwischen Fantasy und fantastischer Literatur kaum unterschieden wird.

Das heisst, es gibt ganz strenge Regeln und Grenzen in der Fantasy-Gemeinschaft?

Ja, das ist so. Und das ist eigentlich paradox. Auf der einen Seite zeichnet es die Fantasy ja gerade aus, ein «offenes» System zu sein. Es kann ja alles passieren, nichts ist unmöglich, auch und gerade das nicht, was sich nicht begründen lässt.

Auf der anderen Seite gibt es aber eben doch einigermassen beharrliche Erzählmuster. Und es wird nicht geschätzt, wenn jemand einzelne Aspekte nimmt und sie in andere Textformen überführt. Die Fantasy-Welt ist sehr stark an Lesegewohnheiten, Erwartungshaltungen und einen gewissen Kanon – Tolkiens Einfluss ist da ja allgegenwärtig – gebunden.

Ist der Roman «Der begrabene Riese» von Kazuo Ishiguro für Sie denn ein typischer Fantasy-Roman?

Video
«Der begrabene Riese » von Kazuo Ishiguro
Aus Literaturclub vom 15.09.2015.
abspielen. Laufzeit 20 Minuten 26 Sekunden.

Nein, aber es ist ein Roman, der mit Fantasy spielt, sie als Referenzrahmen benutzt. Im Gegensatz zur gängigen Fantasy wird bei Ishiguro immer sichtbar, wozu fantastische Elemente benötigt werden. Man merkt bei ihm, warum er zum Beispiel einen Drachen einsetzt, dessen Atem das Land in einen Nebel des Vergessens hüllt. Er nutzt den Drachen als Metapher – und die Leser merken schnell, dass die metaphorische Bedeutung eigentlich viel wichtiger für die Handlung ist als das Monstrum.

Nicht das Fantastische an sich ist für ihn also interessant, sondern das, was er damit ausdrücken kann. Das Fantastische in seiner Geschichte hat einen poetischen Mehrwert.

Kazuo Ishiguro sagt, Fantasy-Elemente seien schon immer Bestandteil der Literatur gewesen.

Natürlich gab es schon immer fantastische Elemente in der Literatur. Weil sie die Möglichkeit bieten, Unerklärliches und Übernatürliches darzustellen. Das Fantastische hat dabei eine anthropologische Funktion. Gehen wir mal zu unseren Ursprüngen zurück: Ein Mensch ist der Natur und ihren Gewalten schutzlos ausgeliefert. Er sieht überall Kräfte am Werk, die er nicht erklären kann. Er weiss auch nicht, wie er in diese Welt kommt, was diese Welt mit ihm vorhat. Also greift er zum Mittel des Erzählens. Dabei genügt es aber nicht, zu beschreiben, was vorhanden ist und was man sehen kann. Es braucht Bilder für das Nichtbeschreibbare, die Zusammenhänge, das, was gewesen ist, bevor man da war. Und all das findet die Literatur im Fantastischen, schon Homer findet es dort.

Buchhinweis

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Kazuo Ishiguro: «Der begrabene Riese». Blessing, 2015.

Kann fantastische Literatur – die in fremden Welten spielt – aktuelle gesellschaftliche und politische Fragen der Gegenwart behandeln?

Ishiguro macht genau das. In seiner Geschichte verhandelt er die Bedeutung der Erinnerung für unser Zusammenleben, das Private wie das Gesellschaftliche. Er geht dazu ins Britannien des 5. Jahrhunderts, in eine Zeit, die weit von unserer entfernt scheint. Eine Zeit, in der es keine «Backups» und unvergesslichen Datenspeicher gibt. Und gleichzeitig ist sie uns darin eben doch furchtbar nah: Der Nebel des Vergessens aus den Nüstern des Drachen – das ist auch der Nebel des Vergessens, der sich über eine Zivilisation legt, in der die Maschinen alles und die Menschen gar nichts mehr erinnern.

Wir vergessen unsere Emotionen, warum wir mit wem noch oder nicht mehr zusammen sind, warum wir einander hassen oder begehren. Und um dieses zunehmend unfassbare Leben wieder verständlich zu machen, brauchen wir dann die Phantastik.

Kazuo Ishiguro hat gegenüber SRF gesagt, er finde die Genrediskussion überflüssig, sie sei eine Erfindung des Buchhandels.

Da hat er recht. «Fantasy» ist in der Tat ein Genre, das aus Marketinggründen geschaffen wurde und nach und nach ein eigenes literarisches Ordnungssystem geworden ist, mit eigenen Regalen in der Buchhandlung, mit bestimmten Handlungsmustern und passender Cover-Gestaltung. Ein Genre, dem man den Zuschnitt auf einen bestimmten Käufermarkt nicht selten ansieht und das massenhaft verkauft wird.

Wichtiger ist: Ishiguro verweigert sich sowohl dem Snobismus, Fantasy als eine «Paraliteratur» zu betrachten, als auch den Zwängen der typischen «Sword and Sorcerer»-Erzählung. Er hat einen – auch wenn es abgedroschen klingt – postmodernen Zugang zur Fantasy: Er nimmt sich von ihr, was immer er braucht – Drachen, Kobolde, Oger – und weiss, dass an diesen Bruchstücken immer auch eine ganze Welt hängt. Aber anstatt dieser Welt zu verfallen und am Ende wieder in Mittelerde zu landen, zwingt er uns, den Kosmos der Fantasy durch das Perspektiv der Gegenwart zu beschauen.

Drei Fantasy-Literaturtipps von Philipp Theisohn

  • «Die Farben der Magie» (Terry Pratchett)

    «Die Einstiegsdroge Pratchetts monumentale Discworld-Reihe: Selbstironisch, zivilisationskritisch – die Cyberpunk-Version von Mittelerde.»

  • «Der stählerne Traum» (Norman Spinrad)

    «Eine tiefgründige Monstrosität aus dem Jahre 1972: Was wäre, wenn Hitler Anfang der 1920er-Jahre nach Amerika ausgewandert und dort ein gefeierter Fantasy-Autor geworden wäre? Und was für Bücher hätte er geschrieben? Die Antwort gibt es hier.»

  • «Tehanu» (Ursula K. LeGuin)

    «LeGuin, später vor allem als Science Fiction-Autorin bekannt geworden, hat mit ihrem Earthsea-Zyklus den Grundstein für eine neue, die Geschlechterrollen reflektierende Fantasy geschaffen. Der Einfluss von Tehanu geht jedoch weit über die zweite Welle des Feminismus hinaus; noch «Game of Thrones» steht in LeGuins Schuld.»

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