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Literatur «Lasst mich da raus»: Ein kleiner, feiner Roman aus Argentinien

Mit skurrilem Humor erzählt die Argentinierin María Sonia Cristoff in ihrem Roman «Lasst mich da raus» von einer Simultandolmetscherin, die endlich Ruhe haben will. Sie gibt sich fortan dem Schweigen hin. Doch als ihr Schweigejahr gestört wird, reagiert sie radikal.

Eine Katze mit Flügeln, ein trauriger Fuchs auf einem Gartenstuhl sitzend, ein Hund im Schneidersitz, kopulierende Äffchen, eine Gitarre spielende Maus – was die Website Badly Stuffed Animals (inzwischen offline) an Kuriositäten und Abscheulichkeiten bietet, ist kaum zu übertreffen.

Eine Frau lässt sich mit einem ausgestopften Wolf mit Fliege und Weste, der Laute spielt, fotografieren.
Legende: Ein ausgestopfter Wolf mit roter Fliege, der Laute spielt? Ein Foto ist es immerhin Wert. Reuters

Die Bildergalerie vereint ausgestopfte Tiere, die absichtlich pervers (oder je nach Perspektive: komisch) inszeniert sind, und Tiere, bei denen der Präparator versagt hat: ein schielender Hund, ein Bär mit gequälter Miene, alle möglichen Haustiere mit schlaff heraushängender Zunge.

Schweigen als Projekt

Der Hinweis auf die Webseite mit den versammelten Monstern findet sich im Roman «Lasst mich da raus» der Argentinierin María Sonia Cristoff. Er ist einer von vielen faktischen Einschüben, sie ergänzen die fiktive Erzählung über ein Narrenexperiment.

Eine erfolgreiche Konferenzdolmetscherin hat sich entschieden, sich ein Jahr lang dem Schweigen hinzugeben. Sie zieht aufs Land und nimmt in einem heruntergekommenen Heimatmuseum eine Stelle als Museumswärterin an. Als sie zur Assistentin eines ununterbrochen redenden Tierpräparators befördert wird und dadurch ihr Experiment gefährdet sieht, beschliesst sie, zu drastischen Massnahmen zu greifen.

Zwei ausgestopfte Pferde als Denkmal

Das Ziel ihrer Attacke sind zwei ausgestopfte Pferde der argentinischen Criollo-Rasse, die in den 1920er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts Berühmtheit erlangt haben. Mit den beiden Rössern Mancha (Flecken) und Gato (Katze) ist nämlich der argentinisch-schweizerische Lehrer und Schriftsteller Aimé Tschiffely von Buenos Aires nach New York aufgebrochen. Drei Jahre später, 1928, ritt er über die Fifth Avenue, stolz, den Yankees die Ausdauer und Zähigkeit der Argentinier demonstrieren zu können.

Die Archivaufnahme zeigt Aimé Félix Tschiffely, der neben seinem Pferd Mancha steht, mit dem Rücken zur Kamera.
Legende: Aimé Félix Tschiffely mit Mancha, einem der beiden Pferde, mit denen er von Argentinien nach New York ritt. Archivo General de la Nación

Danach kamen die Pferde ins besagte Heimatmuseum in der argentinischen Provinz, wo sie zum nationalen Denkmal avancierten. Im Roman sind sie etwas in die Jahre gekommen und sollen nun vom nervenden Tierpräparator – und assistiert von der schweigenden Hauptfigur – zu neuem Leben erweckt werden. Kaum sind die berühmten Tiere präpariert, beginnt die Protagonistin ihr Zerstörungswerk.

Faktisch angereicherte Fiktion

Sehr überzeugend verbindet María Sonia Cristoff in ihrem dünnen Buch Fakten und Fiktion. So unterfuttert sie die erfundene Geschichte der kontemplativen Dolmetscherin mit dazwischen geschobenen Informationen zu Themen, die in der Erzählung anklingen: etwa zum Ausstopfen von Tieren, zum Autor und Abenteurer Tschiffely oder zu den Criollo-Pferden. Häufig handelt es sich um unbekannte Autoren und Werke, die sie unter dem Titel «Aus dem Notizheft» vorstellt, Kurioses und Anregendes zugleich.

Buch-Hinweis

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María Sonia Cristoff: «Lasst mich da raus». Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Berenberg Verlag, 2015

Es ist dieses Spiel zwischen Erfindung und Gefundenem, das die Schriftstellerin und Reisejournalistin María Sonia Cristoff fasziniert. Mit ihrem Reportagenband «Patagonische Gespenster» ist sie als brillant schreibende und genaue Beobachterin berühmt geworden, mit ihrem zweiten Roman «Lasst mich da raus» gelingt ihr das Kunststück, eine spannende Geschichte zu erzählen und Informationen zu vermitteln.

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