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Literatur Nach der Katastrophe: Wie Menschen wieder in Tschernobyl leben

Auch 30 Jahre nach dem Atomunglück in Tschernobyl ist die umliegende Gegend stark verstrahlt. Das Gebiet wurde geräumt und gilt als unbewohnbar. Dennoch gibt es Menschen, die heute in der Sperrzone leben. Alina Bronsky erzählt in ihrem Roman «Baba Dunjas letzte Liebe» vom Leben dieser Rückkehrer.

26. April 1986. Im Atomkraftwerk Tschernobyl am nördlichen Rand der Ukraine geht etwas fürchterlich schief. Ein Test, der eigentlich als Sicherheitsbeweis gedacht war, läuft aus dem Ruder. Aufgrund eines Bedienungsfehlers fällt die Leistung des Reaktors viel zu tief, nur um danach unkontrolliert und rasant wieder anzusteigen. Der Druck liegt hundertfach über dem Normalwert – der Reaktor explodiert. Das Gebäude geht in Flammen auf, gewaltige Mengen an radioaktivem Material steigen in die Atmosphäre.

Buchhinweis

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Alina Bronsky: «Baba Dunjas letzte Liebe», Kiepenheuer & Witsch, 2015.

In den folgenden Tagen herrscht Schweigen. Die sowjetische Führung weigert sich, zum Unfall Stellung zu beziehen. Zwar wird der Brand auf dem Gelände gelöscht, doch weder die Feuerwehrmänner noch die Bevölkerung der Umgebung werden über die Gefahren informiert. Aus Angst vor einer Massenpanik wird die Katastrophe noch tagelang verschwiegen – die Folgen sind bekannt.

Rückkehr in die Sperrzone

2016 jährt sich die Katastrophe zum 30. Mal. Sie ist noch immer spürbar. Tausende von Menschen sind gestorben, unzählige andere tragen Krankheiten in sich. Das Leben in den betroffenen Gebieten wird nie mehr sein, wie es mal war. Und doch – es geht weiter. Irgendwie. Sogar in der sogenannten 30-Kilometer-Todeszone leben wieder Menschen.

Mehr Literatur zu Tschernobyl

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  • Swetlana Alexijewitsch: «Tschernobyl», Piper 2015.
  • Darragh McKeon: «Alles Stehende verdampft», Roman, Ullstein 2015.
  • Merle Hilbk: «Tschernobyl Baby. Wie wir lernten, das Atom zu lieben», Eichborn, 2011.
  • Peter Jaeggi: «Tschernobyl für immer. Von den Atombombenversuchen im Pazifik bis zum Super-GAU in Fukushima. Ein nukleares Lesebuch», Lenos, 2011.

In ihrem Roman «Baba Dunjas letzte Liebe» entwirft die deutsch-russische Autorin Alina Bronsky eine Geschichte rund um diese Aussenseiter. Sie leben in der Sperrzone nahe des Reaktors. Eigentlich ist das Leben dort verboten. Aber die Behörden interessieren sich kaum mehr für die verlassene Gegend.

Gemüse wächst auch im verstrahlten Boden

Heldin des Romans ist Baba Dunja, eine alte selbstständige Frau. Sie wehrt sich gegen die Hysterie der Gesellschaft, hat sich mit der Strahlung und den Krankheiten versöhnt und lebt zusammen mit einigen weiteren Rückkehrern im fiktiven Ort Tschernowo. Sie alle sind alte Menschen, die sich gegen ein Leben in einer anonymen Stadtwohnung entschieden haben. Teils aus Geldnot, teils aus Heimweh sind sie in ihre frühere Heimat zurückgekommen.

Das Leben in Tschernowo ist einfach. Ohne Telefon und fliessendes Wasser. Und doch wirken die Aussteiger zufrieden – sie sind alt, ein bisschen stur und sehr eigensinnig. Sie haben nichts zu verlieren, haben sich bewusst für das Leben in Tschernowo entschieden. Fast alle ernten ihr eigenes Gemüse. Den Vorschriften zum Trotz – denn die Verstrahlung sieht und riecht man ja nicht.

Leben mit den Geistern

Ab und zu tauchen Wissenschaftler auf, messen die Bestrahlung und dokumentieren ungewöhnliche Pflanzen und Tiere. Auch die Geister der Toten sind Teil der Geschichte: der verstorbene Ehemann, der Hahn einer Freundin, frühere Nachbarn. Sie begleiten Baba Dunja durch ihren stillen Alltag. Die Zeitrechnung teilt sich auf in «vor dem Reaktor» und «nach dem Reaktor».

Unruhe kommt durch Neuankömmlinge ins Dorf – die Geschichte nimmt ihren Lauf. Für Baba Dunja beginnt ein Kampf gegen Behörden und Medien, gegen die Sorgen ihrer ausgewanderten Tochter und die Sprachbarrieren zu ihrer pubertierenden Enkelin. Am Ende steht erneut die Ruhe in Tschernowo. Und die Erkenntnis, welchen Wert Freiheit und Selbstbestimmung im Leben eines Menschen innehaben.

Frei von Verharmlosung und Pathos

Zu Tschernobyl wurde schon einiges geschrieben. Besonders in Erinnerung bleibt Swetlana Alexijewitschs «Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft», in der die Nobelpreisträgerin Interviews mit Betroffenen zu literarischen Collagen verarbeitet hat. Ein hervorragendes, furchtbar eindringliches Zeugnis.

Dagegen ist Alina Bronskys Verdienst die Schilderung der Gegenwart. In einer leichtfüssigen, zuweilen scherzenden Sprache vermittelt sie einen Eindruck vom Leben der Rückkehrer. Es gelingt ihr, das Thema Tschernobyl frei von Verharmlosung und Pathos in eine wunderbare Geschichte zu verwandeln. Ein berührendes Buch, nicht nur für Geschichtsinteressierte.

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