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Deutschland hat gewählt Klamme deutsche Kommunen: Wenn der Spardiktator übernimmt

Vom Sparzwang bekommt in Deutschland fast jeder etwas mit: Kaum eine Kommune, kaum eine Stadt, die Geld für grosse Sprünge hätte. Dramatisch ist die Lage in Nordrhein-Westfalen, das nicht aus der Schuldenspirale herauskommt. In einer kleinen Gemeinde Nideggen hat gar ein Zwangsverwalter das Sagen.

Nideggen in Nordhrein-Westfalen
Legende: Nideggen in Nordhrein-Westfalen: Eine Stadt muss sparen. SRF/Simone Fatzer

Ein Brunnen plätschert. Am Rathaus blühen Geranien. Kinder spielen am Fusse der Burg. Was die Kulisse nicht verrät: Die Geranien sind gesponsert, die Kinder verlieren ihren Spielplatz, das Rathaus steht zum Verkauf – und jetzt gehen erst noch die Steuern hoch. Eine Schweinerei sei das, sagt eine ältere Dame im Café. «Aber wir haben ja jetzt hier einen Kommissar, der hat das durchgesetzt. Wir waren ja pleite.»

«Es ist gar nichts mehr da»

«Wir» – das ist die Gemeinde Nideggen in Nordrhein-Westfalen, gleich an der niederländischen Grenze. Nideggens Sparkommissar heisst Ralph Ballast. Der sitzt gerade in der Gelateria und löffelt sein Spaghettieis. Und bilanziert dabei: «Es ist gar nichts mehr da.» In Nideggen sind die Schulden ins Unermessliche gewachsen – und das darf nicht sein. Das Gesetz erlaubt es nicht.

Aber weil sich die lokale Politik dem Sparen verweigerte, setzte Sparkommisar Ralph Ballast, der Beamte aus der Bezirkshauptstadt Köln, die Steuern hoch. Ausserdem muss Nideggen das Lernschwimmbecken schliessen und die Strassenbeleuchtung reduzieren. Selbst die öffentliche Toilette wird nicht verschont. Die sei derzeit noch städtisch, erklärt Ralph Ballast.

Wenn Bürger die öffentliche Toilette putzen

Manchmal helfen sich die Menschen dann einfach selbst. Ballast lobt das Engagement der Bürger, die Toiletten in ihren Stadtteilen auf eigene Faust übernehmen. Sie streichen, säubern und pflegen das Örtchen. «Es gibt ganz viel Engagement hier und davon lebt diese Stadt», lobt Ballast. Die Stadt könne sich so von bestimmten Aufgaben zurückziehen, Bürger und Vereine übernähmen sie.

Gespart wird in Nideggen mit minimem Effekt, denn anders als in den überschuldeten Städten in Nordrhein-Westfalen gibt es auf dem Land kein Stadttheater, das man schliessen könnte.

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Der Spardiktator hat Ausstrahlung ins ganze finanziell angeschlagene Bundesland. «Es hat eine abschreckende Wirkung, das hier Entscheidungen nicht mehr von Leuten aus der Mitte getroffen werden », sagt Ralph Ballast. «Das möchten andere Kommunen, die ähnliche Probleme wie Nideggen haben, auf keinen Fall.»

«Die Leute brauchen einen Blitzableiter»

Ralph Ballast übernimmt die Rolle der demokratisch legitimierten Politiker. Auch Bürgermeisterin Margit Göckemeyer im Rathaus ist teilweise zur Verwalterin degradiert. Es sind schwere Zeiten für sie. Es sei schon so, dass man ihr für alles die Schuld gebe, sagt Göckemeyer, dass man ihr vorwerfe, nicht fähig zu sein. Dabei seien die Schulden, die Nideggen habe, nicht erst in den vergangenen vier Jahren aufgelaufen. Aber: «Die Leute brauchen einen Blitzableiter. Die wollen ihre Wut auf eine Person fokussieren.» Und das sei nun mal sie, meint Göckemeyer.

Lehrbücher zur Kommunalverwaltung helfen hier nicht weiter. Schon eher das humoristische Kölsche Grundgesetz, das hier jeder kennt. Margit Göckemeyer hat es sich an die Türe gehängt. Der erste Paragraph heisst: Et is wie et ist. Es ist wie es ist. Und es ist so: Nideggen hat über seine Verhältnisse gelebt. Jeder Ortsteil wollte eine eigene Infrastruktur. Dazu kommen die Aufgaben von Land und Bund.

Am Informationsabend kocht die Wut der Menschen hoch, die Einwohner sehen schwarz. Nideggen lebt von den Vereinen, denen geht es jetzt ans Eingemachte. Sandra Kirch ist verzeifelt. Sie verliert das Übungslokal der Gemeinde. Sie wohne jetzt seit 30 Jahren hier, seit 25 Jahren sei sie im Karnevalsverein. «Ich möchte natürlich retten, was zu retten ist», sagt Kirch, die sich ehrenamtlich engagiert . «Aber irgendwann kommt eine Grenze, an der man sagen muss: Es geht nicht mehr.»

Die Wut auf «die da oben»

Die Wut der Nidegger richtet sich an «die da oben». «Sie machen die Landgemeinden kaputt», ruft ein Mann wütend. «Ganz bewusst macht man uns von Düsseldorf aus kaputt.» Das gibt Beifall.

In der Landeshauptstadt Düsseldorf kennt man natürlich den Fall mit dem Sparkommissar. «Das ist nicht schön», räumt Reiner Priggen ein. Aber der Politiker, der für die Grünen im Landtag sitzt, hat selbst Probleme bis zum Hals. Er muss für das Land nach Sparmöglichkeiten suchen. Auch Nordrhein-Westfalen selbst ist hochverschuldet. Das Land leidet unter dem Strukturwandel der Industrie.

Beifall gebe es fürs Sparen nicht, sagt Priggen. «Nur Ärger.» Eine Alternative gebe es nun aber mal nicht. «Wir müssen nicht nur bis 2017 eine Milliarde Euro sparen. Wir müssen auch bis 2020 ohne neue Schulden sein – das schreibt unser Grundgesetz so vor. Das ist ein ganz hartes Brot.» Bei solch desolaten Finanzen bringen selbst gekaufte Steuer-CDs aus der Schweiz nicht die grosse Entlastung

Café in Nideggen
Legende: Café in Nideggen: Wo die Stadt nicht mehr kann, springen manchmal Vereine und die Bürger selbst ein. SRF/Simone Fatzer

Wer kann, geht

In Nideggen ist der Infoabend zu Ende. Ralph Ballast sammelt Zettel mit Sparvorschlägen der Bevölkerung. Drauf steht zum Beispiel: eine Kurtaxe einführen, Eintritt für die Besichtigung der Burg nehmen – und: Vertrauen schaffen.

Auch Vertrauen wird aber ein grosses Problem der überschuldeten Gemeinden nicht lösen: Sie schrumpfen und verlieren noch mehr Geld. Die 20-jährige Esther Wagner etwa, Bedienung in der Gelateria, macht ihre schönen Cappuchinos nicht mehr lange in Nideggen. Die Ausbildung habe sie gerade fertig, jetzt wolle sie ein Jahr nach Amerika. «Und dann will ich studieren. In Amsterdam vielleicht.»

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