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Deutschland hat gewählt «Pensionopolis»: Warum es Rentner in Scharen nach Görlitz zieht

Im Osten Deutschlands gibt es besonders viele Alte und wenig Babys. Die Jungen ziehen westwärts auf der Suche nach Arbeit. Dafür machen Rentner den umgekehrten Weg – angelockt von malerischen Städten und tiefen Hauspreisen. Görlitz ganz im Osten Sachsens gilt als eigentliches Rentnerparadies.

Görlitz, die östlichste Gemeinde Deutschlands, glänzt mit der vielleicht schönsten Altstadt des Landes. 4000 Gebäude von der Spätgotik bis zur Gründerzeit stehen hier unter Denkmalschutz. In einem wohnen Manfred und Brigitte Otterpohl.

Der Salon, Raumhöhe 3,65 Meter, ist das Prunkstück ihrer herrschaftlichen 3 1/2-Zimmer-Jugendstilwohnung am äusseren Altstadtring. Hartholzparkett, stuckverzierte Decken, ein sorgfältig restauriertes Cheminée – alles stilgerecht und doch mit modernstem Komfort ausgestattet:

Die Otterpohls sind beide pensionierte Gymnasiallehrer. Vor sieben Jahren sind sie aus dem süddeutschen Freiburg nach Görlitz gezogen und haben hier gefunden, wonach sie immer gesucht haben. «Aufgeschlossene Leute, eine schöne Stadt, eine herrliche Umgebung und ein gutes kulturelles Angebot», beschreibt Manfred Otterpohl die Vorzüge der neuen Heimat. In Görlitz schätzen sie auch die kurzen Wege. «Hier geht man zu Fuss irgendwo hin und geht hinterher noch ein Gläschen Wein trinken. «Früher», sagt Manfred Otterpohl, «musste ich immer mit dem Auto fahren.»

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Überzeugende Argumente

Und all das zu einem monatlichen Mietzins von umgerechnet unter 1000 Schweizer Franken – ein überzeugendes Argument für den Umzug Richtung Osten. «Wir haben auch versucht, in Freiburg in der Stadt etwas zu finden», sagt Brigitte Otterpohl. Dort aber sei es eng und teuer.

Das finden nicht nur die Otterpohls. Zwischen 200 und 300 Rentner aus den alten Bundesländern ziehen jedes Jahr neu nach Görlitz. Zum Wohle der Stadt meint der Seniorenbeauftragte Hans-Ulrich Lehmann. Die älteren Zuzüger seien zum einen gut für das lokale Gewerbe und für die Kultur in der Stadt. «Ich würde sagen, das sind Bildungsbürger», sagt Lehmann.

Lange hätte die Stadt die DDR nicht mehr ertragen

Viele Neuzuzüger kamen zuerst als Touristen nach Görlitz und verliebten sich in die wie durch ein Wunder von Kriegen und Katastrophen weitgehend verschonte Stadt. Auch die Vernachlässigung während der DDR-Jahre überlebte Görlitz nahezu unbeschadet, sagt Hans-Ulrich Lehmann auf einer Tour durch die Aussenquartiere. Aber für die Stadt war es knapp. «Vielleicht hätte das alles noch zwanzig Jahre gehalten», sagt Lehmann. «Dann wäre die Stadt einfach zusammengeplumpst.»

Hans Ulrich Lehmann war 35 Jahre lang Stadtrat in Görlitz – auch schon zu DDR-Zeiten. Damals gehörte er oft zu jener Fraktion, die ganze Altstadtzeilen abbrechen und durch neumodische Plattenbauten ersetzen wollte. Heute ist er froh, dass er sich meist nicht durchsetzen konnte. Vor allem dank der intakten Altstadt ist Görlitz auf bestem Weg, wieder zur Pensionopolis zu werden, wie die Stadt schon zu Bismarcks Zeiten genannt wurde.

Nicht alle profitieren

Das Wort «Rentnerparadies» hört Oberbürgermeister Siegfried Deinege allerdings nicht wirklich gern. Er sieht die Stadt als ein Paradies für alle Generationen. Naherholungsgebiete , Infrastruktur-Projekte, günstiger Wohnraum und Kindertagesstätten – all das soll Görlitz auch für Junge attraktiv machen.

Wunderbar, findet Juliane Löffler. Nur brauchten Junge vor allem eines. «Arbeits- und Ausbildungsplätze.» Löffler leitet den Jugendclub Basta. Gerade wird dort das zehnjährige Bestehen gefeiert, aber die gute Stimmung täuscht. Es sei nicht ganz einfach in Görlitz zu leben, sagt Löffler. «In den vergangenen Jahren wurde hier vor allem Wert darauf gelegt, dass die Rentner ein schönes Leben haben. Die Jugend aber wurde links liegen gelassen.»

Seit der Wende ist in ganz Sachsen das Durchschnittsalter um über sieben Jahre gestiegen, in Görlitz noch stärker, weil Alte zuziehen, vor allem aber weil Junge weggehen auf der Suche nach Arbeit. Doch nun zeichne sich eine Trendwende ab, hofft Oberbürgermeister Deinege. «Wir haben wieder mehr Zuzug als Abzug. Wir bauen nun sogar wieder eine Grundschule. Und wo ist das in Deutschland heutzutage schon üblich?»

Nicht nur Hoffnungsschimmer

Neue Schulen sind gewiss ein Hoffnungsschimmer. Und auch die Zahl der Arbeitsplätze nimmt wieder leicht zu – etwa beim Eisenbahnbauer Bombardier, der nach der Wende die alte DDR-Waggonfabrik übernommen hat und heute unter anderem die neuen Doppelstock-Züge für die SBB baut.

Noch immer aber beträgt die Arbeitslosenrate in Görlitz über 17 Prozent und überdimensionierte Wohnquartiere werden rückgebaut. Die Einwohnerzahl ist in den vergangenen 25 Jahren von fast 80'000 auf unter 55'000 gesunken.

Geheiratet wird zwar nach wie vor häufig im malerischen Görlitz. Aber oft kämen die Brautpaare von weit her, bedauert der junge Ofenbauer Martin Streit, der am Fuss der Rathaustreppe einer Hochzeitsgesellschaft zuschaut. Hier in der Region eine Frau zu finden, sei fast unmöglich. «Es ist echt schwierig, eine geeignete Dame zu finden», sagt Streit. Das sei schade. Es gebe kaum noch Kinder, die Stadt sterbe aus.

«Wir haben hier alles, was wir am Ende brauchen»

Diese Probleme hätten sie nicht mehr, scherzt die Rentnerin Brigitte Otterpohl beim Abschied. Die pensionierten Görlitzer fänden hier alles, was sie brauchten. «Da die Physiotherapie, hier der Arzt und schräg gegenüber das Pflegeheim und die Kirche. Wir haben alles beieinander für den letzten Lebensabschnitt.

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