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International «Erdogan zerstört alles, was er aufgebaut hat»

Die Lage in der Türkei droht sich weiter zu destabilisieren: Erneut hat am Dienstag ein Terroranschlag das Land erschüttert, im Südosten geht das Militär mit unverminderter Härte gegen die kurdische PKK vor. Darunter leidet zunehmend die Zivilbevölkerung.

Nach dem Terroranschlag vom Dienstag in Istanbul mit mindesten zwölf Todesopfern, darunter zehn deutsche Touristen, stellt sich zunehmend die Frage, ob Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die Lage in der Türkei noch im Griff hat. Die langjährige Nahost-Korrespondentin von Radio SRF, Iren Meier, analysiert die Lage.

Iren Meier

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Iren Meier ist SRF-Auslandredaktorin mit dem Spezialgebiet Türkei. Sie war von 2004 bis 2012 Nahost-Korrespondentin und lebte in Beirut. Von 1992 bis 2001 war sie als Osteuropa-Korrespondentin tätig – erst in Prag, dann in Belgrad.

SRF News: Der Anschlag in Istanbul vom Dienstag gehe aufs Konto des IS, sagen die türkischen Behörden. Zudem habe der türkische Geheimdienst die Polizei schon im Vorfeld der Bluttat davor gewarnt, es befänden sich mehrere Terroristen auf dem Weg nach Istanbul und Ankara. Wie glaubhaft sind diese Angaben?

Iren Meier: Art und Ort des Anschlags deuten tatsächlich auf den sogenannten Islamischen Staat als Urheber hin. Letztes Jahr hatte der IS sogar offen gegen die Türkei gedroht, wobei er ein Bild der blauen Moschee verwendete. Andererseits ist es erstaunlich, wie schnell die türkische Seite den Attentäter mit vollem Namen identifiziert hat, obschon sie sagt, der Geheimdienst habe ihn nicht auf dem Radar gehabt. Das wirkt nicht sehr überzeugend.

Muss man davon ausgehen, dass die Türkei vom IS infiltriert ist?

Absolut. Das weiss man seit langem und das ist kein Geheimnis. Allerdings ist es ein Tabu, darüber zu berichten. IS-Leute hatten über Monate und Jahre freie Bahn in der Türkei, sie konnten unbehelligt die Grenze zu Syrien überqueren, Verletzte wurden in türkischen Spitälern behandelt. Ausserdem gab es Berichte, wonach die türkische Regierung den IS und andere radikale Islamisten unterstützt hat. Die Journalisten, die dies aufgedeckt haben, sitzen heute alle im Gefängnis. Zwar geht die Regierung auf Druck der Amerikaner und der Europäer seit einigen Monaten härter gegen den IS vor, führt Razzien durch und sichert die Grenze zu Syrien besser. Doch es ist eine Tatsache, dass der IS in der ganzen Türkei Schläfer-Zellen hat, die nur darauf warten, eingesetzt zu werden.

Mit seiner Politik zerreisst Erdogan die türkische Gesellschaft – und niemand stoppt ihn.
Audio
Die Türkei und die Bedrohung durch den «Islamischen Staat»
aus Rendez-vous vom 13.01.2016. Bild: Keystone
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 59 Sekunden.

Derzeit ist bekanntlich auch eine Art Bürgerkrieg gegen die kurdische PKK im Gange. Was bedeutet das alles für die Stabilität des Landes?

Die Türkei ist alles andere als stabil. Staatspräsident Erdogan verbeisst sich völlig in den Krieg gegen die PKK und die Kurden: Im Südosten des Landes hat die Armee ganze Städte abgeriegelt. Seit Wochen herrschen Ausgangssperren und die Zivilbevölkerung leidet zunehmend unter dem militärischen Vorgehen gegen die PKK. Doch Erdogan will nicht wahrhaben, dass der türkisch-kurdische Konflikt ausschliesslich mit Verhandlungen gelöst werden kann und es gibt niemanden, der ihm das klarmacht. Im Land herrscht ein Klima der Angst und der Einschüchterung. Das zeigt sich etwa darin, dass die pro-kurdische Partei HDP kriminalisiert wird oder dass Erdogan in den letzten drei Monaten persönlich 93 Personen verklagt hat, weil sie ihn beleidigt haben sollen.

Der Anschlag von Istanbul wird dem Tourismus wohl schaden. Wie stark wird die türkische Wirtschaft insgesamt unter der Bluttat leiden?

Türkei bombardiert erneut PKK

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Die Türkei hat Stellungen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK im Nordirak bombardiert. Insgesamt sechs Kampfflugzeuge seien bei dem Angriff am Dienstagabend eingesetzt worden, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu.

Das kann man derzeit nicht abschätzen. Doch sicher ist, dass der Tourismus einbrechen wird. Bereits hat die Türkei wegen des Konflikts mit Russland im Nachgang des Abschusses eines russischen Kampfflugzeugs viereinhalb Millionen russische Touristen pro Jahr verloren. Nun wird wohl auch die Zahl der deutschen Touristen zurückgehen, das war bisher die grösste Touristengruppe. Insgesamt geht es um rund zwei Millionen Arbeitsplätze im Tourismus-Bereich, der einer der wichtigsten Wirtschaftszweige in der Türkei darstellt. Es ist paradox, dass Erdogan in seinen Jahren als Regierungschef sehr viel für die Prosberität des Landes getan hat, während er nun als Staatspräsident alles zerstört, was er aufgebaut hat. Mit seiner Politik zerreisst er die türkische Gesellschaft und niemand stoppt ihn; EU und USA schweigen zu seinem Vorgehen im Krieg gegen die Kurden. Dabei sollte Erdogan seinen Fokus aussenpolitisch auf die Bekämpfung des IS richten und innenpolitisch versuchen, das Land zu befrieden.

Das Interview führte Ivana Pribakovic.

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