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International «Schon Al Kaida wollte europäische Grossstädte terrorisieren»

Dschihadisten verwandeln eine Weltmetropole über Nacht in ein Schlachtfeld. Der Journalist und Islamismus-Experte Yassin Musharbash ist nicht erstaunt über das Vorgehen. Aber darüber, dass es blutige Realität wurde.

SRF News: Die Spuren des Massenmordes führen nach Belgien. Zwei der Attentäter kommen offenbar von dort. Welche Bedeutung hat das Land für den Islamismus?

Yassin Musharbash

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Yassin Musharbash ist Journalist bei der Wochenzeitung «Die Zeit», im Ressort Investigative Recherche. Der Arabist beschäftigt sich seit mehr als einem Jahrzehnt mit Islamismus, Terrorismus, Islamophobie und anderen radikalen Ideologien. Er hat auch einen Krimi mit dem Titel «Radikal» zum Thema geschrieben.

Yassin Musharbash: Belgien hat eine überproportional grosse islamistische Szene. Das gilt auch für den militanten Anteil. Insbesondere bei der Anzahl junger Männer, die sich auf den Weg nach Syrien oder in den Irak gemacht haben. Pro Kopf ist er in Europa, womöglich sogar weltweit – abgesehen von einigen arabischen Ländern – am höchsten. Die belgischen Sicherheitsbehörden haben massive Probleme, diese Leute zu überwachen. Es gibt immer wieder Razzien, Festnahmen, Prozesse und Verurteilungen. Aber ein Teil der Szene ist nicht ausreichend im Blick.

Warum gerade Belgien?

Belgien war nicht besonders gut darin, die zweite und dritte Generation von Einwandererkindern in die Gesellschaft zu integrieren. Es gibt Satellitenstädte am Rande der grösseren Städte, fast schon eine Art Segregation. Vor allem nordafrikanische Einwanderer der zweiten und dritten Generation schmoren im eigenen Saft. In diesem Milieu verfangen solche Ideologien. Schneller, als wenn es Durchmischung und Konfrontation mit anderen, moralischen, politischen und ethischen Werten und Vorstellungen gibt.

Und wieso verüben diese Terroristen ihre Anschläge in Frankreich?

Die Strategie ist bekannt, dass der IS versucht, Staaten (für ihre Militäraktionen) zu bestrafen oder Vergeltung zu üben. Jetzt hat es Frankreich getroffen. Zuvor war es Russland. Den mutmasslichen Anschlag auf das russische Passagierflugzeug hat der IS in denselben Zusammenhang gestellt.

Bisher waren die Angriffe des sogenannten Islamischen Staates in Syrien, Irak, Libyen. Sie sprechen davon, dass er «bestrafen» will. Würde das konsequenterweise bedeuten: Wenn man sich aus Syrien zurückzieht, hören die Anschläge auf?

Das behauptet der IS. Das muss man ihm aber nicht glauben. Das wäre auch eine politisch katastrophale Sicht: Wir lassen sie in Ruhe, also lassen sie uns in Ruhe. Der IS ist nicht nur eine Gefahr für Restaurantbesucher in Paris. Er herrscht über einen grossen Teil Syriens und des Irak. Es gibt mindestens sechs Millionen Menschen, die zwangsweise unter der Terrorherrschaft des IS leben. Schon deswegen wäre es ein fataler Versuch, sich aus der Schusslinie zu nehmen. Zumal wir davon ausgehen dürfen, dass der IS auch andere Gründe finden wird, im Westen Bomben zu legen.

Audio
«Belgien hat eine überproportional grosse islamistische Szene»
aus Echo der Zeit vom 15.11.2015. Bild: ZVG
abspielen. Laufzeit 7 Minuten 45 Sekunden.

Diese Terrorattacken haben eine neue Dimension. Steckt auch eine neue Tätergruppe dahinter?

Es war ein sehr grosser und ausgefeilter Anschlag in Paris. Und ein Szenario, das eine Menge Vorbereitung und Planung benötigt. So etwas passiert eher selten. Es ist nicht ganz beispiellos, wenn man es mit den Anschlägen in Mumbai 2008 vergleicht. Schon Al Kaida hatte die Terrortaktik, eine Grossstadt über Stunden oder im Idealfall über Tage in Atem zu halten, immer wieder im Kopf. Und wollte sie auch in Europa anwenden. Der IS teilt seine DNA mit der Al Kaida. Was in Paris geschehen ist, ist also nicht ganz überraschend.

Was in Paris geschehen ist, ist nicht ganz überraschend. Überraschend ist, dass es dem IS gelungen ist.

Überraschend ist, dass es dem IS gelungen ist. Ein Anschlag dieses Ausmasses beansprucht viel Planung – die fällt oft auf. Ein Beispiel: Wenn sich sieben Attentäter mit Sprengstoff eindecken, müssen sie den entweder selber kochen, ihn kaufen oder stehlen. Alles sind Vorgänge, die relativ schnell in den Fokus von Sicherheitsbehörden geraten. Deswegen wird man sich auch fragen müssen: Warum ist es niemandem aufgefallen, wie sich die Attentäter in massiver Art und Weise ausgerüstet haben?

Diese Terroristen berufen sich ja auf den Islam. Aber hat das noch irgendetwas mit ihm zu tun?

Nein. Wir können diese Diskussion relativ einfach beenden, indem wir uns eines klar machen: Diese Leute hängen nicht einer Religion, sondern einer Ideologie an – der Ideologie des Dschihadismus. Sie hat natürlich abstrakt mit dem Islam zu tun, beruft sich auf islamische Quellen und Werte. Das darf man aber nicht verwechseln mit einer praktizierten Religion. Es ist eine politische Weltanschauung. Sie ist verknüpft mit einer mörderischen, brutalen Handlungsanweisung. Sie hat das Endziel, die restliche Welt zu unterwerfen.

Überall – auch bei uns – wird nun wieder über diese «Schlächter» gesprochen und geschrieben. Ist das wieder einmal der ultimative Werbespot für Dschihadisten?

Ja und nein. Berichterstattung ist der Sauerstoff, den Terrorgruppen zum Leben brauchen. Wenn es kein Echo mehr geben würde, würde Terror nicht mehr funktionieren. Daraus kann man aber nicht die Forderung ableiten, dass Medien nicht mehr über Terrorismus berichten sollten. Hier müssen Güter gegeneinander aufgewogen werden. Unsere Aufgabe als Journalisten ist es, die Menschen zu unterrichten. Diese bewerte ich höher, als das Problem, dem IS mit der Berichterstattung einen Gefallen zu tun. Wir leben Gott sei dank in freien Gesellschaften und haben den Anspruch und das Recht, uns zu informieren und informieren zu lassen. Berichterstattung über Anschläge gehört unbedingt dazu. Ich will aber zugestehen: Es gibt gute, zurückhaltende, nüchterne Berichterstattung. Es gibt aber auch schlechte, sensationsheischende und unseriöse.

Das Gespräch führte Simone Fatzer.

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