Von 160 Gemeinden stimmten gestern 158 für Tempo 50 und gegen ein Vorkaufsrecht für Gemeinden bei Grundstücken und Liegenschaften. Und überfuhren damit Zürich und Winterthur. Dieser Stadt-Land-Graben ist nicht neu – doch er zeigte sich gestern frappant. Zwei Grossstädte gegen den Rest des Kantons.
Ein Grund dafür ist, dass die beiden Welten weiter auseinandergedriftet sind; gerade bei den Themen Verkehr und Wohnen. Für die städtische Bevölkerung ist es die grösste Sorge, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Auf dem Land ist der Druck geringer. Und während in der Stadt viele Anwohnerinnen und Anwohner unter dem Verkehrslärm leiden, wollen die Menschen vom Land möglichst schnell durch die Stadt fahren können.
Ein Schuss vom Land vor den städtischen Bug
Offenbar spielte gestern ein gewisser Anti-Stadt-Reflex. Sprich: Die Stimmbevölkerung auf dem Land und auch in der Agglomeration wollte den Städten einen Schuss vor den Bug geben. Viele blicken mit einem gewissen Argwohn auf die Stadt Zürich, die nicht sehr autofreundlich politisiert. Parkplätze verschwinden, Spuren werden abgebaut – und eben Tempo 30 hätte grossflächig kommen sollen. Da hat nun die nicht-städtische Stimmbevölkerung dagegengehalten, die Städte überstimmt – und sie auch gleich entmachtet.
Auch das Vorkaufsrecht auf Liegenschaften «gönnte» die Kantonsbevölkerung den Städten nicht. Obwohl sie es ja nicht hätten umsetzen müssen, sondern Zürich und Winterthur ein Instrument an die Hand gegeben hätten, das diese sich sehnlichst wünschen.
Versöhnung ist nicht in Sicht
Aktuell stehen sich die Städte und der Restkanton unversöhnlich gegenüber. Die Stadtzürcher SP sieht eine «besorgniserregende rechtsbürgerliche Bevormundung der Stadtbevölkerung», auf der anderen Seite jubelt die Zürcher SVP darüber, die linke Stadtregierung ausgebremst zu haben.
Diese wiederum überlegt sich, rechtlich gegen das Abstimmungsergebnis vorzugehen. Sie sieht die Gemeindeautonomie verletzt. Verbal und vielleicht auch juristisch bahnt sich eine Auseinandersetzung an – die nicht neu ist, aber an Intensität zuzunehmen scheint.
Stadt und Land verstehen sich nicht
Diese Entwicklung ist kein Zürcher Phänomen. Durch die ganze Schweiz zieht sich zwischen Grossstädten und dem Land ein Graben, der so tief ist wie nie in den letzten 45 Jahren. Das zeigt eine Sotomo-Studie im Auftrag von Fenaco, die diesen Sommer erschienen ist.
Und die beiden Räume scheinen sich auch zunehmend weniger zu verstehen. Gemäss dieser Studie werden die Städte bei Abstimmungen zwar häufig überstimmt – je länger, je mehr. Gleichzeitig haben die Menschen allerdings das Gefühl, in der Schweiz hätten die Städte das Sagen.
Stadt und Land leben aneinander vorbei. Auf dem Land haben gemäss dieser Sotomo-Studie mehr als 80 Prozent der Menschen das Gefühl, von den Städten nicht ernst genommen zu werden. Dieser Wert hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Was diese zunehmende Entfremdung widerspiegelt – und schliesslich zu solchen Abstimmungsergebnissen führt wie gestern im Kanton Zürich, wo zwei Städte allein auf weiter Flur gegen den Rest des Kantons stehen.