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«Is Europe Back?»: WEF-Podium und anschliessende Diskussion
Aus News-Clip vom 22.01.2014.
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WEF 2014 Sieben Thesen zu Europa

«Is Europe Back?» war eine der Fragen am WEF. Wie steht es um den Kontinent? Ist die EU eine Union ohne Einheit? Kurz vor dem Ende? Der polnische Europa-Experte Pawel Tokarski nimmt Stellung zu einigen immer wieder geäusserten Thesen und sagt, wie es um Europa steht.

These 1: Im Moment wird der zarte Aufschwung in einigen Staaten Europas als die Wende in Europa angepriesen. Doch dieses Wachstum wurde teuer erkauft – durch die Verpfändung von grossen Teilen der nationalen Reichtümer einiger Staaten. In Wahrheit ist Europa immer noch daran, den Zusammenbruch zu verhindern.

Zur Person

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Pawel Tokarski beschäftigt sich mit der wirtschaftlichen Integration in der EU, der Euro-Krise und dem EU-Haushalt. Er ist leitender Analyst am Polnischen Institut für internationale Angelegenheiten (PISM) und zurzeit Gastwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

Pawel Tokarski: Wir haben vor einer Wende noch viele Hindernisse zu überwinden, damit sich die Lage in Europa verbessert: Etwa Griechenlands Schuldenproblem ist noch nicht beseitigt. Und die Situation des europäischen Bankensektors ist noch lange nicht klar: Im Herbst 2014 werden die Ergebnisse der Europäischen Zentralbank veröffentlicht, worin sie die Qualität der Bankeninvestments beurteilen. Da könnte noch einiges ans Licht kommen.

Auch die volkswirtschaftliche Situation hat sich seit der Einführung der Eurozone nicht verbessert. In einigen Ländern hat sie sich gar verschlechtert, namentlich die Staatsschulden im Vergleich zum BIP oder die Arbeitslosenquote.

Nichtsdestotrotz müssen wir bedenken, dass ein grosser Teil der Krise in der Eurozone zunächst eine Vertrauenskrise ist. Vor zwei Jahren glaubten nur wenige, dass die Eurozone länger als ein paar Monate überleben würde.

These 2: Der Geburtsfehler Europas ist nicht behoben, auch wenn inzwischen ein Fiskalpakt mit Schuldenbremse, ein Stabilitäts- und Wachstumspakt und die europäische Bankenunion stehen. Der Fehler ist: Europa ist eine Währungsunion ohne Fiskalunion oder politische Union.

Die jüngsten Reformen in der EU sowie die sich verändernde Architektur der Eurozone, einschliesslich des Fiskalpakts oder der Bankenunion haben vor allem präventiven Charakter. Sie zielen darauf ab, die Finanzmärkte davon zu überzeugen, dass die fehlenden Elemente der Wirtschafts- und Währungsunion ergänzt werden. Zudem sollen die Reformen das Risiko künftiger Finanzkrisen mindern.

Das Beispiel Irland zeigt, dass ein Land mit der Krise umgehen kann, wenn es über eine solide, wirtschaftliche Basis und eine effizienten Administration verfügt. Wir sollten demnach nicht zu viel Wert auf die EU-Ebene legen – trotz der gemeinsamen Währung der Länder. Vielmehr müssen wir uns auf die individuellen Probleme von Griechenland, Zypern, Spanien, Portugal, Italien und Frankreich konzentrieren. Ihre Aufgaben können nur von den nationalen Entscheidungsträgern in Angriff genommen werden. Die in Brüssel getroffenen Entscheidungen können den Bankensektor der Eurozone sicherer machen, aber sicher nicht Frankreich oder Italien wettbewerbsfähiger.

Deshalb brauchen wir starke Führungen auf den nationalen Ebenen. Die Regierungen müssen konkrete, unpopuläre Entscheidungen treffen und strukturelle Probleme beheben – und bereit sein, notfalls den politischen Preis dafür zu zahlen. Das Beispiel der Strukturreformen in Lettland zeigt, dass dies möglich ist.

Der Prozess der politischen Einigung in Europa findet sowieso statt. Er ist notwendig, aber er wird dauern.

These 3: Europa ist keine wirkliche Gemeinschaft. In Wahrheit ist Europa ein Gebilde, in der jedes Mitglied zu den anderen Mitgliedern in Konkurrenz steht.

Das Fundament der europäischen Integration war immer eine Mischung aus Wettbewerb und Solidarität. Der Wettbewerb basiert auf den Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes: Freier Warenverkehr, Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit und freier Kapital- und Zahlungsverkehr. Die Solidarität drückt sich in Transferleistungen von stärkeren EU-Mitgliedstaaten an Schwächere aus, zum Beispiel im Rahmen der EU-Regionalpolitik.

Diese Politik wurde übrigens auf Verlangen von Grossbritannien geschaffen. Das Land gehörte zum Zeitpunkt des Beitritts zur EU im Jahr 1973 zu den ärmsten Mitgliedstaaten. Neuere Beispiele dieser Solidarität sind die Finanzhilfspakete für Griechenland, Zypern, Portugal und Irland. Klar war die Hilfe nicht nur reine Wohltätigkeit, sondern beruhte auch auf den Interessen der Geberländer.

These 4: Eine Lösung für die EU wäre die Bundesrepublik Europa, die Hegemonie Deutschlands in Europa. Der Grund: Wenn sich eine Volkswirtschaft gegenüber den andern durchsetzt, so hebt sie den Wettbewerb gegenüber den andern auf.

Es ist offensichtlich, dass sich das Gewicht Deutschlands in der EU in Folge der Krise deutlich erhöht hat. Es wäre allerdings ein Fehler, die Macht der Deutschen noch auszuweiten. Erstens würde von einem Land, das die klare Führung der Eurozone übernimmt, erwartet werden, dass es erheblich mehr Kosten der Krise tragen würde. Das will die deutsche Bevölkerung nicht. Zweitens enthält das deutsche politische System und das deutsche Rechtssystem noch zahlreiche Zwänge für weitere Entscheidungen über den Euro-Raum. Drittens würde sich Deutschland auf Grund der historischen Last in einer expliziten Führungsrolle unwohl fühlen.

These 5: Europas Schicksal wird sich in nächster Zukunft an Italien entscheiden. Das Land ist hochverschuldet und Europa könnte den Bankrott der drittgrössten Volkswirtschaft nicht verhindern.

Das wirtschaftliche und politische System Italiens funktioniert nicht gut und birgt ein erhebliches Risiko für die anderen Länder der Eurozone. Etwa die Probleme seines Bankensektors könnten zum Stolperstein werden. Da hilft auch das starke Technologiepotenzial des Landes nicht weiter. Das Wachstumspotenzial wird durch Bürokratie, mächtige Interessengruppen und überwältigende Korruption erwürgt. Die Regierung unter Monti hat es immerhin geschafft, einige begrenzte und unpopuläre Reformen umzusetzen. Und die derzeit fragile Regierung von Letta versucht, das Wahlsystem zu reformieren.

Allerdings birgt die Wirtschaft Frankreichs ein noch viel höheres Risiko für Europa als Italien. François Hollande hat weder ein Konzept noch den Mut, den Franzosen zu sagen, dass das aktuelle Wirtschaftsmodell keine Zukunft hat. Die kürzlich angekündigten Massnahmen werden keine messbare Wirkung auf die Wirtschaft entfalten. Frankreich ist ein zutiefst konservatives Land mit mächtigen Interessengruppen. Um ihre Anliegen zu verteidigen, sind diese Gruppen bereit, auf die Strasse zu gehen, auch wenn sie damit unter Umständen die ganze Wirtschaft lahmlegen.

These 6: Deutschland steht zusammen mit Polen ziemlich alleine da. Frankreich und Grossbritannien ziehen nicht richtig mit. Europa wird deswegen scheitern.

Meinungsverschiedenheiten zu wirtschafts- oder sozialpolitischen Themen sind normal in einer Gruppe von 28 Ländern mit unterschiedlichen Wirtschaftsmodellen. Die Verantwortlichen können die Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung nicht über Nacht ändern. Aber es ist möglich, mit der Vielfalt umzugehen. Wir haben viele wichtige Debatten erlebt, etwa in der Agrarpolitik, im Binnenmarkt oder in der EU-Erweiterung. Und immer war es möglich einen Kompromiss zu finden. Europa wird nicht auf Grund seiner Vielfalt scheitern.

Europa könnte aber scheitern, wenn ein Land oder eine kleine Gruppe von Ländern die Entscheidungsfindung beherrscht und die Interessen der anderen, insbesondere der kleinen Mitgliedsstaaten, missachtet. Frankreich sieht seinen Platz auf jeden Fall in der EU. In Grossbritannien wettern einige Politiker gegen die EU-Mitgliedschaft, um in den Meinungsumfragen besser abzuschneiden. Ein gefährliches Spiel, sowohl für die europäische Union als auch für Grossbritannien selbst.

These 7: Die Idee «Europa» ist eine Utopie. Zu unterschiedlich sind die einzelnen Länder mit ihren Kulturen.

Das Beispiel der Schweiz zeigt, dass Vielfalt sehr wohl innerhalb eines gemeinsamen Rahmens untergebracht werden kann. Es ist möglich, effiziente, demokratische Mechanismen zu schaffen, die allen Regionen Einfluss auf die Entscheidungsfindung einräumen. Wir können versuchen, voneinander zu lernen. Ich würde mich zum Beispiel sehr freuen, wenn die öffentliche Hand in Polen so effizient und transparent wäre wie in den nordischen Ländern.

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