Millionen Kinder wachsen weltweit in Gewalt, Armut oder Konflikten auf. Auch in der Schweiz sind zehntausende betroffen. Jedes fünfte Kind in der Schweiz erlebt regelmässig psychische Gewalt. Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter erklärt, weshalb humanitäre Hilfe für Kinder notwendig ist – und wie die Schweiz ihren Verpflichtungen nachkommt.
SRF: Was tut der Bund für gewaltbetroffene Kinder, Frau Bundespräsidentin?
Karin Keller-Sutter: In erster Linie ist es Aufgabe der Familie und des persönlichen Umfelds, zu verhindern, dass Kinder Gewalt erfahren – oder zumindest zu erkennen, wenn etwas nicht stimmt.
In gewaltbetroffenen Beziehungen sind oft auch Kinder involviert, die geschützt werden müssen.
Natürlich kann aber auch der Staat handeln. Der Bund investiert in Kindesschutzorganisationen. In unserem föderalistischen System ist es jedoch sinnvoll, wenn die Behörden vor Ort Verantwortung übernehmen, also die Kantone und Gemeinden.
Laut Europarat verfügt die Schweiz über zu wenige Schutzplätze für Opfer häuslicher Gewalt. Derzeit gibt es einen Viertel Platz pro 10'000 Einwohnerinnen und Einwohner. Empfohlen wird ein Platz pro 10'000. Weshalb kommen wir hier nicht voran?
Das ist ein altbekanntes Problem. Es hängt damit zusammen, dass viele Frauenhäuser als Stiftungen und private Organisationen organisiert sind. Lange wurden diese nicht von den Kantonen unterstützt.
Inzwischen haben sich die Kantone jedoch verpflichtet, zusätzliche Plätze zu schaffen. Das ist dringend notwendig. In gewaltbetroffenen Beziehungen sind oft auch Kinder involviert, die geschützt werden müssen. Ich hoffe, dass sich die Kantone an diese Verpflichtung halten.
Weltweit gibt es zahlreiche gewaltvolle Konflikte. Gleichzeitig kürzen viele Staaten Hilfsgelder – auch die Schweiz. Wie gehen Sie als Finanzministerin mit dieser Spannung zwischen Spardruck und Verantwortung um?
Die humanitäre Tradition ist ein zentraler Pfeiler der Schweiz und ihrer Aussenpolitik. In den letzten Jahren wurde die humanitäre Hilfe ausgebaut. Allerdings kann diese Hilfe nur mit einem stabilem Finanzhaushalt und gesunden Staatsfinanzen langfristig gewährleistet werden.
Sie haben trotz der gekürzten Hilfsgelder die Hoffnung, dass die humanitäre Hilfe weiterhin geleistet wird?
Die Gelder, die etwa die USA nicht mehr sprechen, lassen sich nicht einfach ersetzen. In vielen Organisationen waren sie die grössten Beitragszahlenden. Das kann die Schweiz nicht wettmachen.
Haben Sie während Ihrer Amtszeit Momente erlebt, in denen Ihnen besonders bewusst wurde, wie wichtig es ist, Kinder zu schützen?
Als Bundes- und Regierungsrätin ist man nicht unmittelbar an der Front und daher weniger direkt mit den Menschen konfrontiert, die man durch Gesetze und Massnahmen schützt.
Ich erinnere mich jedoch daran, wie Anfang der 2000er-Jahren im Kanton St. Gallen das erste Gesetz gegen häusliche Gewalt verabschiedet wurde. Das war mir eine Herzensangelegenheit. In diesem Zusammenhang kam eine Kantonsrätin auf mich zu und vertraute mir an, dass sie und ihre Kinder betroffen seien. Damit hätte ich nie gerechnet. Mir wurde bewusst, dass häusliche Gewalt oft im Verborgenen bleibt.
Das Gespräch führte Dani Fohrler.