Eine Professorin, die ihre Doktorierenden grundlos anschreit.
Ein Professor, der sein Forschungslabor wie eine Sekte führt.
Ein Konferenzgast, der eine Doktorandin sexuell belästigt.
Drei Beispiele, die zeigen: Im Schweizer Wissenschaftsbetrieb gibt es einen systematischen Missstand. Aufgedeckt hat dies das investigative Rechercheteam «Reflekt»: Es hat Angehörige aller Schweizer Universitäten gebeten, von Erfahrungen mit Machtmissbrauch zu erzählen. Innerhalb von nur fünf Wochen meldeten sich 180 Personen. 142 der geschilderten Fälle wertet das Rechercheteam als Machtmissbrauch. Mit 38 von ihnen haben sie ausführliche Gespräche geführt.
Die Betroffenen erzählen, wie sie von hierarchisch höher gestellten Mitarbeitenden der Universität belästigt, gemobbt, benachteiligt, fertiggemacht oder an ihre psychischen Grenzen gebracht wurden. Was alle eint: Sie fühlen sich von ihrer Universität im Stich gelassen.
Grenzüberschreitungen weit verbreitet
Die Analyse von «Reflekt» geht über den Einzelfall hinaus. Sie zeichnet vielmehr ein Universitäten übergreifendes Bild. Herabwürdigungen zum Beispiel erlebten sehr viele.
Eine Nachwuchsforscherin erzählt: «Immer wieder schrie unsere Professorin Leute in Besprechungen an und schlug dabei auf den Tisch oder an die Wand.»
Mehrere Frauen schildern, dass sie sexistische Kommentare von Vorgesetzten erdulden müssen. Oder Benachteiligung im Job erlebten, sobald sie Kinder bekamen. Einzelne erzählen von sexuellen Übergriffen. Eine Person sagt: «Ein eingeladener Professor an einer Tagung küsste mich ungefragt. Ich war überfordert und schrieb ihm später, ich habe das nicht gewollt. Er antwortete, dass er das nicht glaube. Es sei klar, dass ich die Wahrheit nicht zugeben könne.»
Am häufigsten schildern Betroffene, dass sie von ihrer Betreuungsperson systematisch daran gehindert wurden, in ihrer Forschung und Karriere voranzukommen. Eine Nachwuchsforscherin sagt über ihren Professor: «Er verlangt endlose Revisionsrunden. So können wir unsere Publikationsliste nicht aufbauen. Seit vier Jahren publiziert in unserer Abteilung niemand ein empirisches Paper.»
Verhältnisse, die krank machen
Nicht alle Betroffenen beschreiben einzelne Vorfälle. Manche berichten von einem allgemeinen Umgang, den sie als «manipulativ», «unvorhersehbar», «exkludierend», «schikanös» oder «herabwürdigend» bezeichnen.
«Machtmissbrauch kann ein kontinuierlicher Prozess sein», sagt Bontu Guschke. Sie doktorierte zum Thema Machtmissbrauch im wissenschaftlichen Betrieb und arbeitet als Beraterin für Antidiskriminierung. «Am Anfang werden Menschen etwa oft isoliert oder in eine Abhängigkeit gebracht. Das sind Faktoren, die Machtmissbrauch später begünstigen.»
Fast alle Betroffenen beklagen psychische Folgen. Am häufigsten genannt werden Schlafstörungen, Depressionen, Angststörungen und Burnout.
Keine griffigen Lösungen
Um Machtmissbrauch zu bekämpfen, haben Universitäten Strukturen geschaffen. Die ETH Zürich etwa verfügt über eine interne und eine externe Meldestelle. Eine dritte Stelle führt Mediationen durch. Eine ähnliche Melde-Architektur kennt jede Schweizer Universität, und dennoch unterscheiden sie sich auch stark voneinander.
Ich hatte Angst, mich zu wehren, weil ich von der Notengebung meines Professors abhängig war.
Die Recherche von «Reflekt» zeigt: Diese Meldestrukturen erfüllen ihren Zweck nur bedingt. Über ein Drittel der Betroffenen meldete seine Erlebnisse nicht. Aus Furcht vor Konsequenzen für die eigene Karriere. Eine ehemalige Doktorandin sagt: «Ich hatte Angst, mich zu wehren, weil ich von der Notengebung meines Professors abhängig war.»
Berichte wie dieser verdeutlichen das Machtgefälle. Und zeigen die Schattenseiten der Wissenschaft an Unis: Professorinnen und Professoren haben die Zukunft des wissenschaftlichen Nachwuchses in der Hand. Weil sie entscheiden, ob Verträge verlängert werden. Weil sie Empfehlungsschreiben ausstellen, Noten vergeben und Kontakte vermitteln. Ohne diese Unterstützung ist eine Karriere kaum möglich. Deswegen ist die Hürde, sich gegen Machtmissbrauch zu wehren, besonders hoch.
Jasmine Lorenzini leitet die Stelle für Gleichstellung, Vielfalt und Inklusion beim Schweizerischen Nationalfonds, der viele Forschungsprojekte in der Schweiz finanziert. Sie hält die vielen Fälle für plausibel. Die Schweiz unterscheide sich nicht gross von anderen europäischen Ländern. Unis seien anfällig für Machtmissbrauch. «Studien zeigen, dass es dafür strukturelle Gründe gibt. Die beiden wichtigsten: der hohe Anteil an Männern in höheren Positionen und die institutionelle Toleranz.»
Weil die Abhängigkeit gross ist, bieten einige Universitäten anonyme Anlaufstellen an. Doch diese zeigen auch nicht die gewünschte Wirkung. Oft verlaufen sie im Sand, sagen die Betroffenen.
Die ETH-Anlaufstellen würden auch bei anonymen Meldungen tätig, versichert eine Sprecherin. Man sei im Hintergrund aktiv und suche nach weiteren Indizien, ohne die Identität der meldenden Person offenzulegen. Auch wenn die Studierenden das nicht immer mitbekommen.
Fehlende Transparenz belastet noch mehr
Doch wenn Betroffene über das weitere Vorgehen nicht informiert werden, belastet das noch mehr. Auch Expertin Bontu Guschke bemängelt das: «Man steht dann allein da», sagt sie. Während dieser ungewissen Zeit müssten Betroffene begleitet und betreut werden. Und auch danach: «Man kann erklären, welche Massnahme getroffen wurde und warum. Und welche Möglichkeiten es gibt, sich wieder zu melden, falls das Verhalten nicht aufhört», so Guschke.
Ich habe den Vorfall an meiner Universität nie offiziell gemeldet. Weil ich dachte, es würde sowieso nichts gemacht.
Viele Betroffene empfinden die Anlaufstellen als unzureichend. Hierarchien und Abhängigkeiten erschweren ihre Arbeit, und die Stellen haben kaum Möglichkeiten, Konsequenzen durchzusetzen. Das Vertrauen in sie ist gering. Eine ehemalige Studentin sagt gegenüber «Reflekt»: «Ich habe den Vorfall an meiner Universität nie offiziell gemeldet. Weil ich dachte, es würde sowieso nichts gemacht.»
In der Regel können nur die Universitätsleitungen Sanktionen beschliessen. Etwa einem Professor untersagen, neue Doktoranden einzustellen. Betroffene schildern allerdings, dass es auch bei einer Eskalation bis zur Leitungsebene keine Konsequenzen gab. «Die Menschen, die über Massnahmen entscheiden, sind nicht neutral», kritisiert Janet Hering, emeritierte Professorin und ehemalige Leiterin des Eawag-Instituts im ETH-Bereich. «Manchmal wollen sie mit ihren Entscheidungen die Institution schützen und nicht die betroffenen Personen.»
Was könnte die Lösung sein?
Viele Betroffene wünschen sich, dass Hierarchien abgebaut und Abhängigkeiten reduziert werden. Anlaufstellen müssten unabhängiger von der Universität sein und problematische Vorgesetzte stärker zur Verantwortung gezogen werden.
Zudem sollen Führungspersonen besser geschult werden. Manche dieser Vorschläge werden vereinzelt bereits umgesetzt. Doch Reformprozesse sind träge und gerade diejenigen, die Macht abgeben müssten, haben das grösste Mitspracherecht: die Lehrstuhlinhaber. Die Geschichten zeigen: Den Preis zahlen jene, die Ausbeutung und Machtmissbrauch erleben. Fast ein Drittel der Umfrageteilnehmenden hat die akademische Karriere abgebrochen oder denkt über diesen Schritt nach.