«Willkommen auf der wohl einzigen Forschungsalp der Welt!», sagt Caren Pauler und lächelt. Diesen Sommer empfängt die Agrarökologin von Agroscope ihr Team auf der Alp Weissenstein, 2000 Meter über Meer, hoch über Bergün GR. Hier, im Freiluftlabor der ETH Zürich, suchen die Forschenden nach Lösungen, um die fortschreitende Vergandung der Schweizer Alpweiden zu stoppen.
Tatsächlich verschwinden jedes Jahr Weideflächen im Umfang von fast 3400 Fussballfeldern – eine Fläche so gross wie der Walensee. Ein Hauptgrund ist bekannt: Die heutigen Hochleistungskühe sind für das Leben am Berg kaum noch geeignet.
Tier und Alp passen nicht mehr zusammen
Die modernen Milchkühe kommen im steilen Gelände nicht zurecht – und sie fressen nur die nährstoffreichsten Gräser. «Wenn Tiere und Alp nicht mehr zusammenpassen, haben wir ein Problem. Wir verlieren unsere Alpweiden und tun unseren Tieren etwas an, das ihnen nicht guttut», sagt Pauler.
Wie kam es so weit? «Der Mensch begann vor etwa 150 Jahren, Kühe gezielt hochzuzüchten und nur noch die produktivsten auszuwählen», erklärt sie. «Einige Rassen geben heute dreimal so viel Milch wie früher – sie sind grösser, schwerer und anspruchsvoller geworden.»
Für eine Jahresleistung von 10'000 Litern Milch reicht einfaches Gras längst nicht mehr. Diese Tiere brauchen Kraftfutter, um ihren Energiebedarf zu decken. Auf der Alp jedoch ist die Futterqualität noch immer so bescheiden wie vor 100 Jahren.
Kuh-Forschung zur Rettung der Alpweiden
Wie gut passen moderne Kühe überhaupt noch auf die Alp? Wie steht es um das Tierwohl – und wie nachhaltig ist die Alpwirtschaft, wenn die Biodiversität ab- und der Flächenverlust im gleichen Tempo zunimmt?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, hat Agroscope – unterstützt vom Schweizerischen Nationalfonds und mit Gastrecht der ETH Zürich – ein einzigartiges Experiment gestartet.
Das zwölfköpfige Team um Caren Pauler untersuchte auf der 400 Hektaren grossen Alp Weissenstein drei Weidetypen mit unterschiedlicher Geländeneigung und Futterqualität: flach, mittelsteil und steil, von nährstoffarm bis futterreich.
Die Hauptdarstellerinnen: 45 Milchkühe aus drei Rassen, die exemplarisch für die Bandbreite zwischen Hochleistung und Robustheit stehen.
- Versuchsgruppe 1: Holstein
Die weltweit verbreitetste Milchrasse und Symbol der modernen Hochleistungskuh – Lieferantin fast aller Milch, die wir trinken. - Versuchsgruppe 2: Original Braunvieh
Traditionelle Zweinutzungsrasse, gezüchtet auf Milch- und Fleischleistung – Sinnbild für die klassische Schweizer Alpwirtschaft. - Versuchsgruppe 3: Hinterwälder
Kleinste Milchrasse Mitteleuropas, robust, trittsicher, genügsam – und fast unberührt von moderner Zucht.
Während des Alpsommers grasten alle drei Rassen nacheinander auf den unterschiedlichen Weiden. Die Rotationen wurden mehrmals wiederholt, um vergleichbare Daten zu erhalten.
Auf der Alp weniger Methanausstoss als im Tal
Das Team überliess nichts dem Zufall: Jede Kuh trug Sensoren am und im Körper – einen GPS-Tracker um den Hals, einen Schrittzähler am Hinterbein und eine Sonde im Pansen.
So konnten Bewegungsaktivität, Raumnutzung, Wiederkauverhalten und Gesundheit rund um die Uhr überwacht werden. Dazu kamen tägliche Milch- und wöchentliche Blutproben. «Die bestüberwachten Kühe der Schweiz», sagt Pauler schmunzelnd.
Eine der Messungen sorgte für eine erste dicke Überraschung. Kühe stossen auf der Alp deutlich weniger Methan aus als im Tal. Dabei hatten die Forschenden eher das Gegenteil erwartet. Doch in Alpenpflanzen steckt ein hoher Anteil Tannin, ein Stoff, der den Methanausstoss senkt, was in den ersten Analysen nun erstmals bestätigt wird.
Die neue Erkenntnis hat es in sich. Methan ist etwa 30 Mal klimaschädlicher als CO₂. Und weltweit stammen 30 bis 40 Prozent der landwirtschaftlichen Methanemissionen von Rindern.
Holsteinkühe betreiben Raubbau am eigenen Körper
Die Versuchsleiterin hat auch auf den Testweiden immer ihr Tablet dabei. So kann sie unter anderem die Daten zu den Körperfunktionen der Kühe in Echtzeit abrufen. Wie eine Fussballtrainerin, die die Daten der Spielerinnen jederzeit unter Kontrolle hat. Und doch bleibt im Feldlabor auch das reine Beobachten zentral.
Beispiel Holstein: der Inbegriff der modernen Hochleistungskuh. Die grossen Tiere mit ihren langen und dünnen Beinen bewegen sich kaum. Und wenn, dann nur im Flachen. Angewiesen auf Kraftfutter, picken sie sich nur die besten Gräser und Pflanzen heraus. Die Folge: Sie verlieren schnell an Gewicht. «Wir haben eigentlich erwartet, dass die Holsteiner in der Milchleistung zurückgehen. Dem ist nicht so. Sie geben vielmehr ihren Körper auf und produzieren ihre Milch aus den Energiereserven, die sie mit auf die Alp brachten», so Caren Pauler.
Stellt sich die Frage: Wieso übersommert man Holsteiner auf Alpweiden, wenn sie gar nicht dafür gemacht sind? «Mittlerweile sind sie mit Abstand die häufigste Rinderrasse. Von den klassischen Schweizer Rinderrassen wie Braunvieh oder Simmentaler gibt es immer weniger. Sie produzieren weniger Milch, was sich in einem intensiven Landwirtschaftssystem offenbar nicht mehr lohnt.»
Hochgezüchtete Rassen tun sich schwer
Auf den Testweiden ebenso gut zu sehen: Die mittelintensive Rasse Original Braunvieh kommt im Gelände gut zurecht. Noch eindrücklicher die wenig produktiven Hinterwälder. Sie sind wahre Kletterkünstlerinnen und holen sich ihr wenig nahrhaftes Alpfutter auch im steilsten Gelände.
Auf der Alp Weissenstein zeigt ein Blick in die Steilhänge: Wenn Kühe die entlegenen Flächen nicht nutzen, schreitet die Vergandung im Eiltempo voran. Wo sich vor ein paar Jahren erste Büsche zeigten, wächst nun sogar Wald heran.
Die Daten des Experiments werden derzeit ausgewertet. Doch frühere Studien mit Mutterkühen deuten an, was sich auch hier zeigen dürfte: Hochgezüchtete Rassen wie die Holsteiner tun sich im steilen Gelände schwer – ihre Anatomie und ihr Fressverhalten sind auf Stallhaltung und Leistungsfütterung ausgelegt.
Mit den Weiden verschwinden auch Lebensräume
Ganz anders die Hinterwälder: klein, robust und erstaunlich trittsicher. Sie kommen mit kargem Futter aus, pflegen die Weiden gleichmässig und fördern so die Artenvielfalt.
«Ich kann mir eine Schweiz ohne Alpweiden nicht vorstellen», sagt Pauler: «Wenn dort nur noch Büsche und Bäume wachsen, aber keine Tiere mehr weiden, verlieren wir ein Stück Identität.»
Der Forscherin bereitet noch etwas anderes Sorgen: Mit den Weiden verschwinden auch Lebensräume für unzählige Pflanzen und Insekten. Deshalb sucht ihr Team fieberhaft nach Lösungen, die ökologisch sinnvoll und für Landwirtinnen und Landwirte machbar sind.
«Wenn die Resultate der Studie vorliegen, möchten wir Wege aufzeigen, die für die Bauern und Bäuerinnen tatsächlich umsetzbar sind. Wir können lange gute Vorschläge machen, welche die perfekte Alpkuh wäre – wenn sich das wirtschaftlich nicht trägt, funktioniert es nicht.»
Die Forschung sucht also nach Wegen, wie sich die Alpweiden als Lebensraum für Tiere und Pflanzen erhalten lassen – und gleichzeitig den Bäuerinnen und Bauern eine Existenz sichern.