Zehn Minuten sollen die Standing Ovations für «Bones and All» bei seiner Premiere an den 79. Filmfestspielen in Venedig gedauert haben. Der neue Film des italienischen Erfolgsregisseurs Luca Guadagnino («Call Me by Your Name») schlägt gehörig auf den Magen.
Tristesse und Menschenfleisch
Guadagninos «Bones and All» ist eine Adaption des gleichnamigen Romanes der amerikanischen Schriftstellerin Camille DeAngelis aus dem Jahr 2015.
Der Film erzählt vom tristen Leben der Teenagerin Maren (Taylor Russel), die in den 1980er-Jahren mit ihrem Vater in einer Wohnwagensiedlung im Mittleren Westen der USA lebt.
Dieser erlaubt ihr kaum Freiheiten, schliesst sie nach der Schule in ihrem Zimmer ein und nagelt ihre Fenster zu. Maren ist nämlich kein gewöhnliches Mädchen: Wenn sie einen ihrer unkontrollierbaren Anfälle hat, greift sie Menschen an. Sie beisst in deren Haut und frisst ihnen wortwörtlich das Fleisch von den Knochen.
An ihrem 18. Geburtstag verschwindet plötzlich ihr Vater. Er hinterlässt ihr lediglich eine Kassette. Ab jetzt muss Maren allein zurechtkommen.
Zum Fressen gern
Mit etwas Geld und ihrer Geburtsurkunde macht sie sich auf die Suche nach ihrer Mutter, die ihr völlig fremd ist. Unterwegs quer durch die USA trifft Maren auf den abgehalfterten Lee (Timothée Chalamet), der wie sie ein sogenannter «Eater» ist. «Eater» töten andere Menschen und essen sie. Sie erkennen sich untereinander am Geruch.
Maren und Lee müssen auf dem gemeinsamen Roadtrip stets neue Opfer suchen, um ihre kannibalistischen Triebe zu stillen. Das schweisst zusammen: Sie verlieben sich ineinander.
Delikater Balanceakt
Typisch Guardagnino: Neben Tod und Brutalität sehen wir viele ruhige, intime Momente zwischen den Hauptfiguren. Auch wenn gewisse Szenen einen angewidert und geschockt zurücklassen: Der Film schafft es, eine intensive Stimmung aufrechtzuerhalten, die weder in seiner Brutalität noch in seiner Intimität an Stärke verliert. Die beiden Jugendlichen sind auf der Suche nach Zugehörigkeit, Identität und nach einem intakten, normalen Leben.
Guadagnino schafft in «Bones and All» den Spagat zwischen blutigem Horror und romantischen Liebesszenen. Die Charaktere überzeugen durch ihre Komplexität und wirken vielleicht gerade deswegen nahbar und furchteinflössend zugleich. Ihre moralischen Grenzen verschwimmen und verlaufen an der Schwelle zwischen Gut und Böse.
Viel Herz und viel Schrecken
Dass Gaudagnino einen Film über Kannibalismus macht, erscheint zunächst merkwürdig. Jüngst geriet Armie Hammer, der Hauptdarsteller seines Filmes «Call Me by Your Name», wegen angeblicher Kannibalismus-Fantasien in die Schlagzeilen. Guadagnino stellte jedoch klar, dass keinerlei Zusammenhang zwischen den Vorwürfen und seinem neuen Film bestehe.
«Bones and All» ist ein gelungenes Roadmovie, der einen mit viel Herz und Schrecken an den Kinosessel fesselt und hungrig nach mehr macht.
Kinostart: 24. November 2022