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Richard Linklater: «Die Zeit war unsere wichtigste Ressource»
Aus Kultur Extras vom 04.06.2014.
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Film & Serien Zwölf Jahre Drehzeit – «Boyhood» schreibt Kinogeschichte

Die Methode: 39 Drehtage auf 12 Jahre verteilt. So wurde noch nie ein Spielfilm gedreht. Das Ergebnis: eine Entwicklungsgeschichte von beispielloser Authentizität. Regisseur Richard Linklater beweist mit seiner innovativen Langzeitstudie «Boyhood», dass er einer der kreativsten Köpfe Hollywoods ist.

Die Story ist ebenso universal wie banal: «Boyhood» zeigt die Jugend eines Durchschnitt-Amerikaners. Verkörpert wird dieser von Ellar Coltrane, einem noch gänzlich unbekannten Schauspieler. Seine Film-Eltern sind in Hollywood dagegen etabliert: Patricia Arquette und Ethan Hawke, der in Richard Linklaters Filmen oft eine Schlüsselrolle einnimmt.

Ein Herzensprojekt gegen jede Vernunft

Drei dialogstarke Liebesgeschichten haben den Independent-Filmer Richard Linklater weltweit bekannt gemacht: «Before Sunrise» (1995), «Before Sunset» (2004) und «Before Midnight» (2013) mit Julie Delpy und Ethan Hawke als entzückend echt alterndes Leinwandpaar. Mit dieser Trilogie hat sich Linklater eine treue Fangemeinde erarbeitet.

Doch ausserhalb dieser werden sich wohl nur wenige auf Anhieb für «Boyhood», einen zweieinhalbstündigen Film über einen unbekannten Teenager, begeistern können. Zumal die Kindheits-Chronik wegen ihres Anspruchs auch nicht wirklich ein Film für Jugendliche ist. Obwohl sich diese sicher in manchen Szenen wiedererkennen würden.

Vermarktungstechnisch fehlt «Boyhood» somit eine echte Zielgruppe. Geld verdienen lässt sich mit einer solchen Langzeitstudie also kaum. Aber Herzen gewinnen. In Berlin wurde Regisseur Richard Linklater vom Publikum gefeiert und von der Jury mit dem Silbernen Bären prämiert. In Cannes folgte die Anerkennung der Berufskollegen: Quentin Tarantino gab auf einer Pressekonferenz bekannt, welche zwei Filmer laut einer brancheninternen Umfrage die spannendsten Regisseure der Gegenwart sind: David Fincher und Richard Linklater.

Kleine Schritte, grosses Glück

Mutter im Bett am Lesen mit zwei KIndern.
Legende: Patricia Arquette als alleinerziehende Mutter. Universal Pictures Switzerland

Wer ein Projekt über 12 Jahre plant, muss aus nüchterner Sicht eigentlich damit rechnen, dass es scheitert. Denn was passiert, wenn plötzlich ein Schauspieler abspringt? Allein schon Drehtermine zu finden, die allen passen – ein organisatorisches Meisterstück. Ethan Hawke und Patricia Arquette sind in Hollywood schliesslich gefragte Leute. Und bei den Teenagern hätte die Begeisterung, in einem Kinofilm mitzuspielen, über die Jahre leicht verfliegen können. Nichts davon geschah – ob aus purem Glück oder wegen Linklaters Überzeugungskraft sei dahingestellt.

Dank der ungebrochenen Kontinuität freut man sich über jeden kleinen Zeitsprung, jeden kleinen Meilenstein in Masons Vita. Zum Beispiel wenn über seinen Scarlett-Johansson-artigen Lippen plötzlich die ersten Barthaare spriessen. Der Wandel von Frisuren und Gesichtskonturen erinnert dabei ein bisschen an die vielen Youtube-Filme, die im Zeitraffer Alters- und Reifeprozesse dokumentieren. Nur die Geschwindigkeit ist in «Boyhood» eine ganz andere. Linklater ist nicht am raschen Effekt, sondern an der nachhaltigen Wirkung seiner Bilder interessiert.

Der 53-Jährige weiss, dass es dazu mehr als veränderte Oberflächen braucht. Statt schneller Schnappschüsse dominieren darum lange Einstellungen, die etwas über Masons wandelnden Charakter erzählen. Anders als ein Zeitraffer-Film macht «Boyhood» somit auch innere Verschiebungen sichtbar. Wesen und Optik der Figuren verschmelzen dabei so sehr, dass man beinahe vergisst, dass es sich um einen Spielfilm handelt.

Spuren des Zeitgeists von Harry Potter bis Barack Obama

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Filmkritik zu «Boyhood»
Aus Tagesschau vom 03.06.2014.
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Dokumentarisch mutet der Film auch deshalb an, weil er immer in der Zeit spielt, in der er aufgenommen wurde. Wie die meisten Kinder seines Alters, steht Mason zum Beispiel stundenlang Schlange, um sich den neusten Harry-Potter-Band zu kaufen.

Jahre später unterstützt er den Wahlkampf von Präsidentschaftsanwärter Barack Obama, mit dem sich seine Generation besonders gut identifizieren kann. Und irgendwann läuft auch bei Mason nichts mehr ohne Smartphone. Nicht nur er hat sich über die Jahre verändert, sondern auch seine und unsere Lebenswelt.

All das erzählt «Boyhood» mit einer Beiläufigkeit, die kaum zu toppen ist. Nichts wirkt gestellt, kein einziger Handlungsbogen konstruiert. Nur ganz selten kippt die Teenager-Studie vom Natürlich-Alltäglichen ins allzu Belanglose. Doch selbst dann denkt man: Wie authentisch! Wenn ein Film das schafft, hat er das Prädikat «kleines Kinowunder» echt verdient.

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